Bericht zu den Märchentagen 2017

„Zwischen Arthaus und Traumfabrik: Der neue Märchenfilm und das neue Filmmärchen“ 

Ob im Fernsehen, auf Videokassette und DVD, oder auf der Kinoleinwand: Märchen haben schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Weg in den Film gefunden und sind bis heute fester Bestandteil desselben. Zunächst im Fach eher kritisch und misstrauisch untersucht, ob ihre möglichen negativen Einflüsse auf die Phantasie der Zuschauer und  möglicher Veränderung der „korrekten“ Märchentradierung, gehören sie inzwischen seit etlichen Jahren zum mit vielfachen positiven Forschungsansätzen untersuchten Medium.
Zumal die Flut der neu produzierten Märchenfilme nicht abnimmt. Gerade in den letzten 15 Jahren sind sowohl in Deutschland und auch dem internationalen Kino etliche neue Filme auf den Markt gekommen. Grund genug sich diesen zu widmen.
Was macht das Märchen für den Film so interessant und wie wirkt der Film auf das Märchen – und den Zuschauer?
Unter dem Titel „Zwischen Arthaus und Traumfabrik: Der neue Märchenfilm und das neue Filmmärchen“ fanden sich deshalb vom 27.–29.09.2017 in den altbewährten Klostermauern von Münsterschwarzach Spezialisten aus Volkskunde und Medienwissenschaften mit aktiven Filmschaffenden zusammen, um sich gemeinsam diesem komplexen Themenkorpus zu nähern.

Mittwoch, 27. September 2017

Eröffnet wurde die Veranstaltung im  Kloster in Münsterschwarzach vom Enkel des Stifters und Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Roland Kahn. Dr. Claudia Pecher gab einen ersten thematischen Einstieg und Blicke in die komplexe Organisation der Tagung, welche einige „märchenhafte Verwandlungen“ [sic! Pecher] zum angekündigten Programm hatte durchlaufen müssen.
Den Einstiegsvortrag hielt Prof. Dr. Marcus Stiglegger von der DEKRA Hochschule für Medien mit dem Titel „Märchenfilm und Filmmärchen – Der beschwerliche Weg zum Happyend“. Als baldiger Herausgeber eines umfassenden Handbuchs für Filmgenres, hatte er sich auch mit dem Märchenfilm intensiv auseinandergesetzt. Vor diesem Hintergrund erläuterte er detailreich die Überlegungen,  in welches Genre dieser einzuordnen sei, oder ob der Märchenfilm gar ein eigenes solches bilden könne.
Dabei folgte er als zweiter Grundfrage der Überlegung, was Märchen für den Film überhaupt lukrativ machte. Hierfür entführte er das Auditorium in die Geschichte des (Kino)Films.
Die Tatsache, dass Märchenfilme auch international als erfolgreiche Blockbuster funktionieren können, so Stiglegger, läge am häufig grimm‘schen narrativen Grundgerüst, welches allgemein kodiert und damit verständlich ist. Hierdurch werden unterschiedliche Transformationsprozesse möglich – so eine zentrale These des Vortrags.
Das zeige sich auch darin, dass schon vor der Erfindung des Films Märchen oder Märchenmotive im Theater verwendet und in einen neuen Mantel gehüllt wurden. Mit der Entstehung des Films kamen Märchen zunächst vor allem in Kurzfilmformaten heraus. Auch diese ersten filmischen Umsetzungen waren, wie die Ursprungsmärchen, nicht für ein kindliches, sondern erwachsenes Publikum gemacht.
Der eigentliche ‚Märchenfilm‘ oder das ‚Filmmärchen‘1 kamen also erst mit der Entwicklung von abendfüllenden Spielfilmen. Gleichzeitig bedeutete das aber auch, dass die Märchenhandlung entsprechend “aufgebläht“ wurde. So gesehen fand eine Wandlung von der oralen in die audiovisuelle Erzählform statt.
Mit diesem historischen Hintergrund wandte sich Stiglegger der eigentlichen Genrefrage zu und eröffnet direkt mit der These, Märchenfilme seien ein Metagenre des Phantastischen Films – also Filmen mit phantastischen Elementen wie Science-Fiction, Horrorfilm und Fantasyfilm.
Durch die besondere Erzählstruktur der Märchen seien sie für die Transformationen der verschiedenen Filmgenres zu öffnen. Das bedeute, sie sind Metafilme, deren freie Struktur filmische Selbstreflexion zulasse und damit zahlreiche hybride Märchenfilme, bspw. als Horrorfilm, ermögliche. Auch als heroische Fantasysage mit Superheldenpotenzial der Protagonisten hat sich das Märchen in den letzten Jahren vielfach an den Kinokassen rentiert. Hier zeigt sich, wie das Aufgreifen aktuell erfolgreicher Trends und eine Starbesetzung bei der Inszenierung von Märchen als Blockbuster funktioniert. Dabei werden vertraute Märchenstoffe oftmals neu kodiert, wie z. B. beim Kinofilm „Melificant“, in dem Dornröschen aus dem Fokus der bösen Fee gezeigt wird.
Wenn auch die zugrunde gelegte Märchendefinition der Untersuchung für das erzählforschende Fachpublikum populäreren Ansätzen folgte, lieferte Stiglegger einen spannenden und schlüssig argumentierten Einstieg in das Thema des Märchenfilms, dessen Thesen und Stichworte im Verlauf der Tagung immer wieder von den anderen Referenten aufgegriffen wurden. Gleichzeitig bot er damit auch einen Zugang in filmwissenschaftliche Forschungen.
Es folgte der kunsthistorisch angelegte Beitrag von Hannes Rall mit dem Titel „Lange Schatten einer Pionierin: Der Einfluss von Lotte Reiniger auf nachfolgende Trickfilmer-Generationen“. Der Referent, der aktuell Associate Professor an der School of Art, Design and Media an der Nanyang technological University in Singapur ist, widmete sich den ästhetischen Ebenen des Märchenfilms. Auch hier spielten Fragen danach, was den Märchenfilm zu einem erfolgreichen Filmgenre macht,  oder was für eine Rolle das „Bild“ für die Imagination des Zuschauers einnimmt und wie sich die Aktualität oder Zeitlosigkeit des Materials ergibt, eine zentrale Rolle.
Die zentrale Untersuchungsfigur war Lotte Reiniger (1899–1981), die heute als wichtige Pionierin des Trickfilms in Deutschland weltweit bekannt ist. Mit ‚Die Abenteuer des Prinzen Achmed‘ (1926) erschuf sie den ersten noch existierenden abendfüllenden Animationsfilm. Dabei lag ihr Schwerpunkt thematisch vorrangig auf der Adaption bekannter Märchen und Mythenwelten. Auch der scherenschnittartige Stil des Films, inspiriert vom chinesischen Schattentheater und dem Wayang Kulit, dem indonesischen Schattenspiel, war eine Besonderheit.
Der Schattenschnitt hatte dabei den Vorteil der Zeitlosigkeit, der sich bis in unsere Zeit hält, eine hohe selbstständige Imagination des Zuschauers nötig macht und damit immer wieder neu wirkt. Die märchenhafte Erzählweise wird eindrucksvoll durch die grafische Kombination von Purismus und Opulenz untermalt – mit dem Kontrast zwischen ruhigen schwarzen Flächen und filigran ausgeführten Mustern, Figuren und Hintergründen.
Nicht verwunderlich also, dass diese künstlerische Stilistik später oftmals aufgegriffen wurde, auch als einzelne Elemente. Rall stellt eine Szene in „The three Brothers Animation“ aus Harry Potter & The deathly Hallows Teil 1 (2010) sowie dem Animationsfilm „Azur et Asmar“ (2006) von Michel Ocelot beispielhaft vor. Letzterer bleibt oft nah an der ursprünglichen Designwelt Reinigers, erweitert sie aber entscheidend um die Ausdrucksmöglichkeiten von Farbe und Stereoskopie. Auch Bruno J. Böttge, Regisseur und Mitbegründer des DEFA Studios für Trickfilme, schuf über 70 Silhouetten-Animationen, davon „Die Bremer Stadtmusikanten“ (1954) als erster eindeutig von Reiniger inspirierte Animation. Klaus Jörg Herrmann, Schüler Böttges,  setzt die Tradition mit seinen eigenen Filmen fort, zuletzt mit „Der siebente Rabe“ (2011), ein 70-minütiger Silhouettenfilm über die Sagenfigur Krabat.
Eindrucksvoll ist auch The Mysterious Geographic Explorations of Jasper Morello (2005) von Anthony Lucas, der 2006 sogar für den Oskar nominiert war und als Silhouette-Animation eine vom Steampunk2 inspirierte Entdeckungsreise im Stile Jules Vernes erzählt.
Rall erläuterte, wie Formsprache und Farben die Faszination des Filmes im Stile Lotte Reinigers schafft und schloß die Frage an, warum ihre Formsprache bis heute so relevant bleibt. Die Antwort darauf sieht er im hohen Stilisierungsgrad, der neben einer besonderen Ästhetik eben vor allem eins bringt: Zeitlosigkeit.
Daran anschließend gab er Einblicke in Entstehung und Wirkung seiner eigenen Filme. Dabei ging es vor allem um den Einfluss südostasiatischer Kunsttradition, die nicht auf westliche Konzepte kopiert werden solle, sondern respektvoll als Grundlage für künstlerische Neuentwicklung dient. Dabei wird Reinigers Ansatz durch die Integration lokaler Einflüsse des originalen südostasiatischen Schattenpuppenspiels re-kontextualisiert. Dafür, so Rall, sei es wichtig „dem Geist des Quellenmaterials“ treu zu bleiben. Gerade die Verschmelzung verschiedenster Einflüsse ohne stilistische Brüche sei ein Erfolgskonzept. In dem Kontext erläuterte er ebenfalls die Entscheidungen bei den Entwicklungsprozessen des Films. Ähnlich wie sich Märchenerzähler ihren Stoff erschließen, muss überlegt werden, welche Elemente man als Kernelemente des Märchens brauche und welche man weglassen oder verändern kann, um am Ende eine verdichtete Handlung umsetzen zu können. Am Ende sieht er die aus all diesen Überlegungen entstehenden Werke als Hommage an die Kunstform des Animationsfilms.
Einblicke in Entstehungsprozesse eines Märchenfilms gab auch der folgende Referent Jörg von den Steinen, TV-Redakteur des ZDF in Mainz. Ziel des Vortrags war es darzustellen, wie sich aus dem Märchentext die filmische Dramaturgie entwickelt. Dafür hatte von den Steinen eine Wäschespinne im Raum aufgestellt, an welchen die verschiedenen Textpassagen des Wilhelm Hauffschen Märchens „Das kalte Herz“ hingen. In dem Folgenden sehr dynamischen und anschaulichen Vortrag, heftete der Referent die teils mit Anstreichungen versehenen Textblätter an der Wäschespinne immer wieder neu und erläuterte anhand dessen die dramaturgischen Überlegungen hinter diesen Veränderungen. Dabei nutzte er als Hauptbeispiel seine eigene Verfilmung des Märchens (2013), setzte sie aber in den Kontext von zwei weiteren deutschen Filmvarianten der letzten Jahre. Dadurch konnte er unterstreichen, wie der individuell gesetzte Fokus auf bestimmte Kernaussage der Filmteams, auch zu ähnlichen oder eben unterschiedlichen Entscheidungen in der Strukturierung der Handlung und dem Einsatz der Protagonisten und Nebenfiguren führen konnte.
Mit diesen Voreindrücken ging es am Abend in die Podiumsdiskussion unter der Leitfrage, die sich auch durch alle Vorträge gezogen hatte: „Warum sind Märchenfilme so erfolgreich?“. Diese erfolgte zunächst in Form von Werkstattberichten von Dr. Astrid Plenk (Nussknacker und Mausekönig, MDR/RB/ARD 2015), Ingelore König (Der Zauberlehring, MDR/ZDF 2017) und Dr. Irene Wellershoff (Die weiße Schlange, ZDF 2015). Damit hatten sich mehrere Experten aus dem Filmgeschäft zusammengefunden, die den Zuhörern Einblicke in ihre jüngsten Film-Märchenprojekte gaben. Begleitet wurde das Podium von Roland Kahn, Vorstand der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Die Einführung und Moderation erfolgte durch Dr. Tilman Spreckelsen.
Hier kamen viele der am Tag gehörten Thesen erneut mit noch stärkerem Fokus auf den Schaffungsprozess auf. Zunächst gaben die Filmemacher aber spannende Einblicke in die Entstehungsprozesse der von ihnen vorgestellten Filme und erläuterten, welche Kriterien für die Struktur der Filme und Charaktere bedeutsam war. Dabei kam die Frage nach „Märchenfilm oder Filmmärchen“ auf, woraufhin eine Zuordnung der Filme stattfand. „Die weiße Schlange“ diente hier als Beispiel für eine klassische Interpretation eines grimmschen Märchens, dass als Erstverfilmung auch keine Rücksicht auf bereits andere Umsetzungen nehmen musste. Der durch Plenk vertretene Film „Der Nussknacker“ orientierte sich, mit teils starken Änderungen, an dem Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann, während „Der Zauberlehrling“3 die Ballade Goethes lediglich als Inspiration für die Umsetzung in eine Märchenhandlung nutzte und somit mehr „Filmmärchen“, als „Märchenfilm“ repräsentierte.
Anhand zahlreicher Ausschnitte aus den drei Filmen, wurden im Folgenden die Fragen des Abends erläutert. Zum Beispiel was einen Stoff eigentlich für einen Märchenfilm qualifiziert. Diese überraschende Frage der Moderation brachte das Podium erstmal gehörig ins Grübeln. Während Ingelore König recht allgemein mit „Magie und Moral“ antwortete, vertraten ihre Kolleginnen weiterführende Ideen, wenn auch „Magie“ bei allen eine Rolle spielte. Daneben seien aber auch „interessante Charaktere mit interessanten Konflikten“, eine dramatische Entwicklung und der Umgang mit einer Lebenskrise wichtig – ebenfalls keine spezifisch märchenhaften Filmvoraussetzungen. So erschien „eine unkomplizierte Sehnsuchtswelt mit Happy End, trotz großer Dramatik“ am Ende als zufriedenstellendste Antwort, auch für die Moderation. Denn beim Märchen ginge es eben auch darum, entspannt zu gucken, weil man wisse, dass sich am Ende alles gut auflösen werde – der „Eierlikör und Kuschelfaktor“. Im späteren Verlauf des Abends wurde dann noch der Aspekt der literarischen Vorlage hinzugezogen.  Märchen beruhen auf einem tradierten Stoff und sind nicht realitätsorientiert. Das mache sie reizvoll.
Dennoch zeigte sich – vor allem auf kritische Nachfragen aus dem Publikum, aber auch von Spreckelsen, dass die Auswahlkriterien fast ausschließlich marktorientiert waren. Kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Märchentexten schienen damit in der Filmbranche offensichtlich gar keine Rolle zu spielen – eine ernüchternde Einsicht für einige im Publikum.
Eine Frage, die am Abend immer wieder aufkam, war die nach dem historischen Setting. In welcher Epoche siedelte man die Geschichte (und daran gekoppelt die Kulissen, Kostüme und Handlung) an und an welchen Maßstäben orientierte man sich für diese Entscheidung? Der „Nussknacker“ wurde als Kunstmärchen simpel in seine Entstehungszeit gerückt – etwas was mit Volksmärchen nicht funktioniert. Ansonsten orientiere man sich z. B. an den als Kulisse dienenden Schlössern, aber auch an verschiedensten anderen Faktoren – die letztendlich ebenso häufig zu einer unbestimmten Mischzeit führen. Wichtig sei vor allem, dass trotz eines bestimmten Settings, der historische Stoff dem heutigen Publikum angepasst wird und am Ende trotz der Historizität „auf der Höhe der Zeit“ bleibe.
Dabei spielte auch die Frage der Finanzierung und die daran gekoppelten Möglichkeiten der Umsetzung in der Diskussion immer wieder eine Rolle.

Donnerstag 28. September 2017

Der Aspekt von Epoche und Zeit, der am Vorabend bereits angeklungen war, wurde am zweiten Tag von PD Dr. Ludger Scherer von der Universität Bonn aufgegriffen, der sich dem Thema „Der Chronotopos ‚Märchenzeit‘ und seine Inszenierung in ausgewählten Märchenfilmen“ widmete. Der Begriff des Chronotopos,  der sich aus den griechischen Wörtern chrónos = Zeit und tópos = Ort zusammensetzt und auf den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin zurückgeht, ist ein Begriff der Erzähltheorie und charakterisiert den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung.
Scherer arbeitet bei seinen Beispielen vor allem mit der Wirkung von Musik und Kulisse. So zeigt er, durch die Einspielungen aus dem amerikanischen Animationsfilm „Rapunzel – neu verföhnt“ (Tangelnd), wie durch einen Musikmix aus mittelalterlichen, vor allem keltischen und modernen amerikanischen Folkeinflüssen die Wirkung einer kleinstädtisch charakterisierten vagen „alten Zeit“ entsteht. Zusammen mit dem visuellen Eindruck von einem vagen frühzeitlichen Europa – oder dem amerikanischen Klischees davon – entsteht ein zeitlich abgerundetes Bild. Gleiches funktioniert auch für andere Epochen, ohne dass wirklich auf eine korrekte musikalische Nutzung geachtet werden muss.
Häufig finden sich gerade in Märchen eben nur grobe zeitliche Orientierungen. So bringt Scherer das unbetitelte Beispiel eines Märchenfilms mit Menuett-Tänzen aus dem 18. Jh., Gebäude aus dem 16. Jh. und Essensdekorationen aus dem Mittelalter – welches auch die offizielle Vergleichsebene sein sollte. Diese historischen Vermischungen zeigt er noch an weiteren Beispielen auf, wobei neben der Musik die Architektur der Drehorte den zweiten Schwerpunkt der Zeitanalyse darstellt. Häufig sind das Schlösser, Burgen, Freilichtmuseen und Nebenorte. Diese weisen in sich selbst meist eine historische Inkohärenz auf, durch Erweiterungen und Restaurierungen in verschiedenen Jahrhunderten, weshalb auch hier am Ende eine eklektische Wirkung einer „historischen Vorzeit“ entsteht.
Diese hat meist den Charakter eines vorindustriellen, sauberen Europas – ein klassisch romantischer Zugriff auf das Mittelalter – oder eine unscharfe, epochenübergreifende Neuzeit.
Diese These untermauert Scherer anhand mehrerer Filmbeispiele der letzten Jahre. Nicht ohne zunächst die zwei Märchenfilmreihen des ARD und ZFD, „6 auf einen Streich“4 und „Märchenperlen“5, in denen auch die Filme des Vortags erschienen sind, als zwei Qualitätsreihen im deutschen Fernsehen einzuordnen.
Am Ende des Beitrags steht fest, dass die entworfenen vergangenen Welten zwar stets mit Detailliebe, aber ohne sozialkritischen Blick für die Zeit oder historische Korrektheit entstehen. Dies schade den Märchen aber nicht, da diese selbst auch in einer unbestimmten Zeit spielen und gerade durch ihre assoziative Offenheit funktionieren.
Einer Publikumsbemerkung, die „Beliebigkeit“ der zeitlichen Darstellung vorwarf, negierte er entschieden. Es gäbe viele Gründe für die Wahl der historischen Kulisse – auch Geld sei einer davon – es würde aber das Ziel im Zentrum stehen „ein stimmiges historisches Bild“ anhand des Drehortes zu schaffen.
Historische Schlösser bildeten auch die Kulisse für das Märchen, dessen Verfilmungen im Vortrag von Dr. Irene Wellershoff, Redaktionsleiterin beim ZDF Kinderprogramm, in den Fokus genommen wurde: Die Schöne und das Biest.
Dabei setzte sie drei Verfilmungen in den direkten Vergleich, um die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten von Märchen in Filmumsetzungen aufzuzeigen: “La Belle et la Bête” von Jean Cocteau aus dem Jahr 1946, “Die Schöne und das Biest” von Marc-Andreas Bochert von 2012 und Christophe Gans Verfilmung von 2014.
Angesichts der Textgrundlage, so Wellershoff, schienen die Macher sich alle mit den gleichen Fragen konfrontiert zu sehen, haben aber unterschiedliche Lösungen gefunden. Die Ursachen darin sieht sie in verschiedenen Faktoren: Zum einen waren die Filme auf ein unterschiedliches Zielpublikum ausgerichtet, zum anderen gab es unterschiedliche „harte Faktoren“ wie Budget und Zeit.
Das zeigte sie anhand von verschiedener Handlungsstellen im Märchen und ihrer jeweils filmischen Darstellung, so die Darstellung der magischen Grenze vor dem Schloss, der erste Auftritt der Protagonistin und der erste Auftritt des Biestes. Daran verdeutlichte sie, wie die Umsetzung der Szenen auch ihre Rollen für die Gesamthandlung verändern kann.
Gerade durch die ungewollte Komik der historischen schwarz-weiß Verfilmung von Jean Cocteau, zeigte sich außerdem anschaulich die Veränderung des Filmgeschmacks des Publikums. Auch die Frage der Farbwirkung wurde, vor allem an dem mit opulenten Bildern im Film von Gans, auch in Rückfrage vom Publikum umfassender erläutert.
Wenn auch wenig mit erzählwissenschaftlichen Material unterfüttert, bildete der Vortrag einen höchst spannenden und anschaulichen Beitrag, der stark auf den bisher gelieferten Input der Tagung aufbauen und Thesen vertiefen konnte.
In ein ganz anderes filmisches Gebiet entführte Anna Stemmann, vom Institut für Jugendbuchforschung an der Goetheuniversität Frankfurt a. M., zum Thema: „Wenn die Grimms nach Springfield kommen. Populärkulturelles Spiel mit dem Märchen-Archiv“. Sie entführte in die animierte Welt der berühmten amerikanischen Trickfilmserie „The Simpsons“, die seit 1989 in über 28 Staffeln über die Bildschirme flimmert. Dieser Exkurs stand im Fokus der vielfachen Verwendung (vor allem grimmscher) Märchenmotive in der Serie. Diese untersuchte sie mithilfe der populärkulturellen „Memes“6, die besonders gut die Transformationen populärer Medienbilder mit Märchenmotivik zeigten.
Dass dies funktioniert liegt daran, dass viele der Märchenelemente allgemein bekannte tradierte Motive sind – sowohl als Bild wie auch Schrift –, die deshalb auch transformiert verwendet werden können. Häufig wird hier mit der Parodie gearbeitet. Diese ist vor allem in der Serie „The Simpsons“ eines der grundlegenden Elemente der gesamten Handlung. In der Serie wird jedoch keine fortgesetzte Geschichte mit Entwicklung erzählt, sondern ist strukturiert durch viele in sich abgeschlossene Episoden im gleichen Setting. Dadurch funktioniert auch die Verwendung bekannter Film- und Textikonen, selbst wenn sich ihr Kontext verschiebt (z. B. die Verwendung von Bioäpfeln bei Schneewittchen zentral wird). Damit sind diese Szenen – und daraus entstehende Memes – ein diskursiver Speicher der Populärkultur.
Weg von dem Märchenfilm, hin zur Serie, widmete sich auch die Literaturwissenschaftlerin Anika Ullmann der Frage nach dem „Märchen vom verlorenen Happy End – Once Upon a Time und dem seriellen Erzählen“. Entgegen den Märchen, die eine abgeschlossene Handlung haben, erfordere das Format der TV-Serie ein offenes Erzählen, um dem Fortsetzungscharakter gerecht zu werden. Die Serialität wird dadurch zum dominanten Motiv der Handlung. Folge davon ist vor allem ein Ausbau der Charaktere, die mit umfassenden Hintergrundinformationen und Charaktereigenschaften zu komplexen dreidimensionalen Figuren ausgebaut werden.
Den Einstieg in die Serie bot die Texttafel: „One day they found themselves trapped in a place where all their happy endings were stolen. Our World.” “Unsere Welt” ist dabei in der Tat eine in Amerika angesiedelte Stadt in unserer Zeit, die parallel zur ursprünglichen Märchenwelt existiert und in welcher die Handlung fast vollständig spielt. Das „Happy End“ wird zum Ziel der Serie und vor allem von den Charakteren ständig thematisiert. Der Aufbau von Spannungsbögen bietet statt dem „Happy End“ im Verlauf der Serie mögliche „Happy Beginnings“ für die Figuren an. Dabei werden innerhalb der Handlung immer wieder Märchen im Märchen erzählt, womit die Serie offene und geschlossene Strukturen in der Erzählung kombiniert. Die den Protagonisten und der Handlung zugrunde liegenden Muster sind dabei eindeutig die Disneyinterpretationen der Märchen. Dadurch kommen neben allgemein bekannten Grimmfiguren, wie Schneewittchen und Rumpelstilzchen, auch Figuren vor, die vor allem aus dem aktuellen Disneykino der letzten Jahre bekannt sind, wie Elsa aus „Frozen“. Über diesen Film und „Enchanted“ spannt die Rednerin auch einen Bogen vom Beginn des Vortrags auf das Ende, denn in beiden findet sich eine klassische Liebesgeschichte der zwei Protagonisten, die sich gar nicht kennen, aber ‚wahre Liebe‘ vermuten. Am Ende stellt sie sich als falsche Liebe heraus – die wahre müsse man sich erst mühevoll erkämpfen und jemanden wirklich kennen lernen. In der Serie wird das durch den zentralen Spruch: „If true love was easy, we‘d all have it“ repräsentiert. Darüber übt Ullmann auch klare Kritik an heterosexueller Ausrichtung der Serie mit dem klaren Fokus der Paare mit Hochzeit und Kind als „Happy Beginning“. Vor allem dieser Genderaspekt wird auch in der anschließenden Diskussion aufgegriffen, in welcher es hitzig um die Debatte geht, ob sexuelle Orientierung in Märchen verändert werden oder überhaupt stärker thematisiert werden sollte oder nicht.
Anika Ullmann leitete im Anschluss auch einen der zwei Workshops, in welchen die Teilnehmer aktiv an den märchenhaften Themen arbeiten konnten. Die Referentin wendete sich erneut einem Serienthema zu, der tschechoslowakischen Fantasy-Kinderserie „Die Märchenbraut“ des Regisseurs Václav Vorlíčekdie, die zwischen 1979 und 1981 erstausgestrahlt wurde.
Nach einer Einführung in die Welt der Serie, ging es vor allem um textliche Fragestellungen. So widmete sich die Gruppe der Frage, welche Rolle die Märchentexte in der Serie spielen, wie sie in die Handlung eingebaut wurden und welche Eigenschaften der Märchen benutzt werden. Zahlreiche Ausschnitte lieferten dabei die Diskussionsgrundlage, die auch ausgiebig genutzt wurde. Die überschaubare Gruppengröße förderte dabei die gute Interaktion und Stimmung der Gruppe, in der vor allem auch durch die divergente Altersstruktur ein spannender Austausch entstand.
Den zweiten Workshop leitete Ron Schlesinger zum Thema „Farbe, Kostüm, Maske – Wie Märchenfiguren mit filmischen Mitteln charakterisiert werden“. Er verwies gleich zu Beginn auf die Flächenhaftigkeit des Märchens, wie Lüthi sie charakterisiert. Bei der Umsetzung seien drei wichtige filmische Mittel deshalb die Kleidung, Haare und einzelne Körperteile, über die fehlende Tiefenbeschreibungen der Figuren optisch geliefert werden. Dabei spielt vor allem die Farbe eine zentrale Rolle. In Märchen seien besonders Rot, Weiß und Schwarz, sowie metallische Farben wie Gold, Silber und Kupfer im Einsatz beliebt. Schlesinger arbeitet dabei vor allem mit den Aufsätzen von Hans J. Wulff, der sich intensiv mit den signifikanten Funktionen der Farben im Film auseinandergesetzt hat. Diskutiert wurden unter anderem Farbmodalitäten wie sie sich im Farb- und im Schwarzweiß-Film unterscheiden und Vorzugsfarben, die durch ihre Dominanz im Film allgemeine inhaltliche Tendenzen anzeigen können.
Im zweiten Teil wurden verstärkt Kostüme und Masken thematisiert, die ebenfalls Personen und die gesamte Filmhandlung charakterisieren können. Aber eben auch Gegenstände, Kulisse und Beiwerk, wie die Gruppe sich an verschiedenen Beispielen gemeinsam erarbeitete und an dessen Ende wohl für die Zukunft eine vertiefte Aufmerksamkeit bei den nächsten Märchenfilmen stand.

Höhepunkt war wie jedes Jahr die Verleihung des mit € 5.000,- dotierten Europäischen Märchenpreises, welcher seit 1986 an natürliche Personen oder Organisationen vergeben wird, die sich um den Stiftungszweck besonders verdient gemacht haben. Dieses Jahr wurden zwei französische Preisträgerinnen geehrt, Dr. Nicole Belmont und Alice Joisten. Letztere nahm, nach einer rührenden Laudatio von Christine Shojaei Kawan, zusätzlich zu ihrem auch den Preis für Frau Belmont entgegen, die aus Krankheitsgründen leider verhindert war.
Darüber hinaus wurde erneut der wissenschaftliche Nachwuchs mit zwei Preisen gefördert. Den Lutz-Röhrich-Preis gewann Lina Sophie Dolfen mit ihrer mutigen Masterarbeit im Fach Kunstgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit dem Titel „Die Märchenbilder von Wassily Kandinsky. Zum Phänomen des visuellen Märchens in Kandinskys Frühwerk“. Die Laudatio hielt Rainer Wehse.
Der Gesonderte Förderpreis ging an Janin Pisarek für ihre Arbeit „‘Wer hat Angst vorm bösen Wolf?‘ Wolf und Werwolf als Sagengestalten und im deutschen Volksglauben unter Einbezug der Rückkehr des Wolfes in Deutschland.“7 Susanne Hose fasste die Arbeit und die Leistung der jungen Wissenschaftlerin anschaulich für das Publikum zusammen.
Gerahmt wurde das Programm neben Harfenmusik von Rosemarie Seitz durch zwei exzellente Kurzvorträge zum französischen Märchen von Natacha Rimasson-Fertin, von denen wir uns auch in einer weiteren Ausgabe des Märchenspiegels in Kürze einen Eindruck machen können. Insgesamt war der Abend im höchsten Maße stimmig. Die exzellenten Redebeiträge und passend gewählte französische Harfenmusik untermauerten die feierliche Gesamtstimmung der Veranstaltung. Bei lokalem Wein und Häppchen wurde die angenehme und lockere Atmosphäre beim anschließenden Empfang ausgiebig zum Austausch der diesmal sehr gemischten Teilnehmer und Referenten genutzt.

Freitag, 29. September 2017

Der letzte Tag führte erneut zurück zu den aktuellen Märchenfilmen von ARD und ZDF. Mit der Frage „Märchenfilme für die Digital Natives oder doch für deren Omas und Opas?“ stellt sie Prof. Dr. Dieter Wiedemann von der Filmuniversität Babelsberg in den Vergleich mit früheren Kinofilmen.
Dass viele Märchen immer wieder verfilmt werden, begründet er wie auch Irene Wellershoff zuvor, mit dem wechselnden Zeitgeist. Jede Generation brauche ihre eigenen Kommunikationsangebote. Spannend werde das z. B., wenn man sich die Doppelverfilmungen von der DDR und BRD ansieht. So gab es von Rumpelstilzchen und Schneewittchen je drei Verfilmungen, zwei im Westen und einer im Osten, in welchen man ideologische Indoktrination der zwei Staaten gut herauslesen kann. Dass alle Verfilmungen sich nah an den grimmschen Fassungen orientieren, zeige aber gleichzeitig die durchgängige Aktualität der Texte, bei wechselnden Ansprüchen an den Film.
Wiedemann wirft die Frage auf, ob die aktuell zunehmenden Umsetzungen von Märchen als Serien den Märchenfilm ablösen können. Die Antwort darauf zeigt, ähnlich wie es sich auch in der Podiumsdiskussion herauskristallisiert hatte, dass Entscheidungen für das Format und auch die Länge des Films sich an rein kommerziellen Maßstäben orientiert und nicht die Verarbeitung des Märchens im Fokus steht. So wird die Filmlänge z. B. daran gemessen, ob das Hauptgeschäft mit der TV-Ausstrahlung oder den DVDs gemacht werden könne, z. B. im Weihnachtsgeschäft.
Wiedemann wirft bei seinen Überlegungen auch immer wieder Brücken in die Filmgeschichte. So seien in den 50er Jahren erste Dialoge aufgekommen, ob man Märchen mit echten Menschen darstellen kann oder nur gezeichnet und mit Puppen. Umfassend widmet er sich dem, nach seiner Entstehung in der DDR, nie ausgestrahlten DEFA Film „Das Kleid“, welcher eine Adaption von „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen darstellt. Der Film von Egon Günther, inszeniert von Konrad Petzold, wurde 1961 produziert und war stark politisch gefärbt. Da viele der politischen Anspielungen an Zeitwissen gebunden sind, versprechen sie keine dauerhafte Funktionalität. Märchenfilme müssten deshalb stets in ihrer zeitlichen und politischen Gebundenheit gesehen werden. Problematisch für das Märchen wurde, dass sie – noch kurz vor dem Mauerbau – unter anderem Szenen zeigten, in welchen die Protagonisten auf der Suche nach einem besseren Leben versuchen, die Mauern der kaiserlichen Stadt zu überwinden. Neben diesen politischen Aspekten, rückt Wiedemann aber vor allem die technischen Details in den Fokus, wie die Vermischung mit Animationseinlagen und Arbeit mit Split-screens.
Wiedemann merkt zum Ende an, dass gezielte Vergleiche von DEFA Filmen mit neuen Verfilmungen noch ein großes Forschungsdesiderat bilden, die gerade als studentische Abschlussarbeiten noch großes Potenzial besitzen – eine Anmerkung die vor allem bei dem studentischen Publikum für Aufmerksamkeit sorgte.
Den Abschlussvortrag der Tagung lieferte mehr als würdig Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak von der Universität Zürich zum Thema: „Capture the Imagination. 100 Jahre Disney-Märchenfilme”. Disney-Verfilmungen waren zwar im Verlauf der Tagung ganz unweigerlich immer wieder als Beispiele in den Vorträgen herangezogen wurden, jetzt wurde ihnen aber tiefergehend auf den Zahn gefühlt. Dabei sah Tomkowiak „Disney“ nicht nur als das Schaffen eines Weltkonzerns, sondern auch ein eigenständiges kulturelles Phänomen mit vielen Wirkungswelten.
Dass dieses Phänomen auch mit Märchen zusammenhängt, zeigt sich seit dem Beginn der Erfolgsgeschichte „Disney“, die bekannte Stoffe immer wieder verarbeiteten. Im Jahr 1921 gründete der Zeichner Walt Disney das Kurzfilmstudio „Laugh-O-Grams“ und produzierte vor allem Kurzfilme für das Abendprogramm, also für ein erwachsenes Publikum. Mit dabei z. B. „little red riding hood“ von 1922. Es folgten unter anderem „Jack & die Bohnenranke“, „Goldlöckchen & die drei Bären“, „Der gestiefelte Kater“ und „Cinderella“.
Durch die Modernisierung des Stoffes sollten die „Märchen dem Volk zurückgegeben werden“. Kritisch betrachtet waren die animierten Kurzfilme aber als humoristische Abendunterhaltung ausgelegt und somit mehr „Parodie“ des Märchens und keine ernsthafte Bearbeitung der Texte.
Nach dem Erfolg der Micky-Maus-Filme, riefen Walt Disney und der Komponist Carl Stalling 1929 die Reihe „Silly Symphonies„ ins Leben. Bei diesen Zeichentrickfilmen, die bis 1939 produziert wurden, sollte, wie der Name bereits andeutet, die Musik mehr in den Fokus gerückt werden. An Märchen angelegt entstanden dabei die Filme „Babes in the woods“ und „Tree little Pigs“. Innerhalb dieser Zeit übernahm Walt Disney auch ein Farbfilmsystem für seine Animationen. Die Erfahrungen in der Kurzfilm-Herstellung aus dieser Zeit flossen in die Entwicklung von Disney ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (orig. Snow White and the Seven Dwarves) ein. Mit diesem startete 1937 die Ära der „klassischen Märchenfilme“, für die auch das Motto der „illusion of life“ war. Umfassende Bewegungsstudien und realgefilmte Szenen dienten als Zeichenvorlage, damit individuelle emotionale Wirkung möglich wurde. Das phantastische wurde „echt“. Mit dieser Mischung aus Emotion, Fantasie und Moral, kombiniert mit unterhaltsamen Elementen und der Geschichte von „Underdogs“, die durch den gemeinsamen Zusammenhalt alles erreichen konnten, wurde Schneewittchen eine erfolgreiche Unterhaltung für die gesamte Familie. In der „Cinderella“ Verfilmung von 1950 wurde noch mehr Realismus und Detailtreue in der Animation umgesetzt. Auch das erneute Einsetzen von tierischen Helfern verspricht ein Erfolgskonzept. Bei „Dornröschen“ wird zusätzlich versucht, eine historische Akuratess einzubinden, die aber über den Geschmack der Zuschauer hinausschießt, da sie den Fokus zu weit weg von der Handlung auf die Darstellung legt – aber gerade diese in ihrer Comichaftigkeit ihren Reiz ausspielte.
Im Jahr 1966 stirbt Walt Disney. Sein Studio wird aber weiter geführt und bringt 1989 mit „Ariell“ erneut eine Märchenverfilmung auf den Markt. Dieser lockt vor allem mit farbenprächtigen Bildern und eingängiger Musik. So wurden über 100.000 einzeln gezeichnete Luftblasen in den Animationen eingesetzt, die Aufgrund des Aufwands in China hergestellt wurden.
Die deutlich „amerikanisierten“ Filme, die klare Genderstereotypen bedienten,  erhielten mit „The Beauty and the Biest“ (1991) erstmals eine starke, belesene junge Frau als Protagonistin. „Aladdin“ (1992) wiederum bemüht sich wenig darum, sich von Klichees der arabischen Welt abzuwenden und muss im Nachhinein wegen Rassismusvorwürfen sogar den Text im Opening Song ändern.
Auch in späteren Disneyfilmen werden die Charaktere zwar vom Aussehen “ihrer Welt” angepasst, bedienen damit aber hauptsächlich westliche Vorstellungen derselben. Das zeigt sich auch mit Prinzessin Tiana aus „The Princess and the Frog“ (2009), welche die erste afroamerikanische Protagonistin der Disney-Märchen-filme ist und sich mit harter Arbeit im New Orleans der 20er Jahre nach oben arbeiten muss – anders als die anderen Prinzessinnen, denen ihr Glück meist durch die Umstände in den Schoß fällt.
Letztendlich steht aber in allen Filmen stets eine kreierte Illusion der schönen und perfekten Welt im Fokus, in welcher der Glaube und die Liebe alles schaffen kann. Erst mit „Frozen“ (2013) kommen zwei weibliche Protagonistinnen ins Spiel, von welchen eine als kluger, selbstständiger Charakter bewusst ohne Partner bleibt und die Verantwortungsvolle Regierung des Landes ohne Mann an ihrer Seite bestreitet. Was die kommenden Jahre bringen werden, wird sich noch zeigen. Doch dass Märchen als Erfolgskonzept von Disney weiter bearbeitet werden und durch ihren Erfolg die Rezeption der Märchen weiter prägen, scheint außer Frage.
Die kurzfristigen Programmausfälle im Vorfeld wurden von dem Veranstalter schnell und mit guten Ersatzvorträgen gefüllt, ohne dass Lücken im Programm entstanden wären oder es eine qualitative Minderung der Tagung gegeben hätte. Sarah Schurtzmann, Studentin der Volkskunde/Kulturgeschichte kurz vor dem Abschluss aus Jena, resümiert auf Rückfrage:
„Ich war schon mehrere Male bei der Tagung und jedes Mal wieder begeistert. Dieses Jahr fand ich vor allem die neuen Ansatzpunkte durch den anderen Fachzugang für mich als Erzählforscher interessant. Die Vorträge waren nicht nur inhaltlich, sondern auch von der Qualität der Vortragsart absolut hochwertig und die Preisverleihung eine würdige und schöne Veranstaltung. Ich mag die produktive und kollegiale Atmosphäre der Tagung, die inspirierend und motivierend für die eigene Arbeit ist.“
Auch sonst herrschte eine positive allgemeine Stimmung am Ende der erfolgreichen Tagung. Wenn auch hier und da die schmunzelnde Bemerkung laut wurde, die deutsche Märchenfilmbranche bräuchte dringend Erzählforscher in ihren Sitzungen, um die Ansätze vom rein kommerziellen Erfolg auf die Erzählstruktur des eigentlichen Märchens zurückzuführen. Das hatte sich vor allem in den Publikumsdiskussionen immer wieder herausgeschält.
Gefüllt mit all diesen neuen Inhalten und dem aktiven Austausch mit den Referenten nahm man Freitagmittag schließlich Abschied.

Die Stiftung bedankt sich bei allen Teilnehmern und freut sich auf nächstes Jahr, wo vom 19. bis 21. September 2018 die Märchentage unter dem Schwerpunkt „Alter & Altern im Märchen“ in Münsterschwarzach stattfinden werden.

Pauline Lörzer

Anmerkungen

1.Siehe hierzu den Artikel Gersdorf, Lisa: „Ein Bär ist kein Löwe“ im MSP 3/17.

2. Steampunk ist eine Retro-Futuristische Subkultur, die sich aus einer literarischen Strömung der 1980er Jahre entwickelt hat. Dabei werden einerseits moderne und futuristische technische Funktionen mit Mitteln und Materialien des viktorianischen Zeitalters verknüpft, wodurch ein deutlicher Retro-Look der Technik entsteht.

3. „Der Zauberlehrling“ wird am Heiligabend, 24. Dezember 2017 im ZDF erstausgestrahlt.

4. Sechs auf einen Streich beziehungsweise Acht auf einen Streich verfilmt Märchen bzw. Motiven aus Märchen, Erzählungen und Gedichten der Brüder Grimm, Hans Christian Andersens, Ludwig Bechsteins, Božena Němcovás, Christoph Martin Wielands, E. T. A. Hoffmanns und Hoffmann von Fallersleben, die das Erste Deutsche Fernsehen im Weihnachtsprogramm des jeweiligen Produktionsjahres erstmals ausstrahlt.

5. Märchenperlen verfilmt seit 2005 bis auf zwei Ausnahmen (2012, 2014) Märchen, die auf den Geschichten der Gebrüder Grimm basieren. Die Erstausstrahlung erfolgte in der Regel im Weihnachtsprogramm des ZDF.

6. Memes sind die verbreiteteste Unterform von Internetphänomen (auch Internet-Hype oder virales Phänomen) wird ein Konzept in Form eines Links oder einer Bild-, Ton-, Text- oder Videodatei bezeichnet, das sich schnell über das Internet verbreitet.

7. Eine umfassendere Vorstellung der Preisträger erfolgte im letzten Märchenspiegel und findet sich auf der Homepage der Stiftung und soll deshalb hier nicht noch einmal wiedergegeben werden.

Einblicke in die Märchentage und Preisverleihungen 2017