Bericht zu den Märchentagen 2018

Das Thema der diesjährigen Märchentagung der Kahn-Stiftung in Münsterschwarzach bei Volkach war „Alter und Märchen“. In den Vorträgen und den Workshops wurden verschiedene Aspekte zum Thema dargestellt. So ging es neben dem Thema „Alte Leute im Märchen“ um Verjüngungsritutale, um das Alter der Märchenbeiträger oder um die berühmte Rede von Jakob Grimm über das Alter. Dabei wurden nicht nur die Grimmschen Märchen analysiert, sondern auch Ausblicke in andere Länder und Kulturen geboten. Die inhaltliche Konzeption lag bei Prof. Harm-Peer Zimmermann (Zürich).

Den Anfang machte Prof. Hans-Jörg Uther (Göttingen) mit seinem Vortrag „Alterstypologien in der europäischen Volkserzählung“. Hier stellte er verschiedene, besonders in der Gattung Märchen vorkommende alte Leute vor, welche gleichsam Stereotypen darstellen und insofern auch mit formelhaften Beiwörtern beschrieben werden. Diese Alten können als Antagonisten, z. B. Hexen, Jenseitswesen wie Zwerge oder als Helfer, welche häufig alte Frauen oder Männer sind, auftreten. Mit den alten Leuten kann der Generationenkonflikt dargelegt werden, wie beispielsweise im Märchen KHM 78 „Der alte Großvater und sein Enkel“ oder KHM 27 „Die Bremer Stadtmusikanten“. In Schwänken wird über die Alten gelacht. Uther verwies auch noch auf weitere Varianten des Alters und des Alterns in Volkserzählungen und darauf, dass sich diese Stereotypen noch in zeitgenössischen Narrativen niederschlagen.
Im Vortrag von Dr. Wolf-Gerrit Otto (Leipzig) wurde das Märchen KHM 147 „Das junggeglühte Männlein“ monographisch behandelt und gezeigt, wie die dargestellten Verjungungsrituale sich in der heutigen Anti-Ageing-Industrie niederschlagen. Dazu wurden die drei „Hilfsmittel“, mit denen Gott den alten armen Mann verjüngt, herausgestellt: Wasser, Werkzeug und Feuer. Zu diesen fand Otto heutige Äquivalente: Wasser und z. B. Hydrotherapie; Werkzeug und z. B. Fitnessstudios oder Medikamente; und Feuer und z. B. Wärmeanwendungen. Dieser Märchentyp zeigt auch die Hybris des Menschen, der Gott nachahmen will. Außerdem greift die Geschichte das Problem der Altersarmut auf, welches gerade heute wieder aktuell ist.
Der Vortrag von Prof. Alfred Messerli (Zürich) behandelte das Märchen KHM 176 „Die Lebenszeit“. Bei dieser Erzählung stellte sich für den Referenten auch die Genre-Frage. Zu welcher Gattung gehört es? Märchen, Fabel, Schwank? Es vereint Motive aus mehren Genres und weist dabei verschiedene Motivationen auf wie die Gier oder den Wunsch des Menschen nach einer bestimmten Lebensdauer.Demgemäß zeigt das Märchen folgende Gliederung der Lebenszeit auf: der letzte Lebensabschnitt beginnt nach den 30 Jahren als Mensch, dann folgt ein Leben, das dem des Esels, des Hundes und schließlich dem des Affen gleicht. Eine Allegorie die sich mit diesen und teils anderen Tieren immer wieder auch in alten Kirchenschnitzereien und -bildern wieder findet.
Prof. Dr. Helmut Fischer (Hennef bei Bonn) ging in seinem Vortrag nicht auf das Alter im Märchen ein, sondern zeigte auf, dass oft „alte Leute als Zeugen für die Glaubwürdigkeit in Alltagserzählungen“ herangezogen werden. Hier nahm er Bezug auf seine langjährigen Erfahrungen in der Feldforschung. Der Erzähler, der selbst häufig auch schon älter ist, erzählt nicht nur diese eine Geschichte, sondern verweist auf eine Reihe von Personen, von denen diese Geschichte stammt und so entsteht die Vorstellung von einer Erzählerkette. Bevorzugt werden Großeltern in diesem Zug genannt. Im Sinne der Glaubwürdigkeit der Erzählung wird so besonders auf alte Menschen hingewiesen, besondere Ereignisse oder Gegenstände werden danach wieder der Gegenwart zugeordnet.
Abgeschlossen wurde der Tag mit der Märchenerzählerin Antje Horn aus Jena, die von Klaus Wegener auch musikalisch begleitet wurde. Sie erzählte im Sinne des Tagungsthemas Märchen von alten Weibern und weisen Frauen.

Der Donnerstag startete mit einem Vortrag von Prof. Holger Ehrhardt (Kassel), der sich mit dem Thema des Alters der Märchenbeiträger der Grimms beschäftigte. Diese waren, entgegen den Klischees, eher jung als alt, im Durchschnitt dreißig Jahre. Auch die Brüder Grimm selbst waren ja zu Beginn des Märchensammelns noch jung (zweiundzwanzig und einundzwanzig Jahre). Auch seien die Angaben, die die Grimms zu ihren Gewährspersonen machten, eher vage gewesen. Somit ist auch heute, nach vielen Forschungen, nicht das gesamte Beiträgernetzwerk bekannt. Von diesen Informanten lassen sich mehrere Gruppen, die Märchen beisteuerten, ausmachen. Durch die Bekanntmachung von Dorothea Viehmann und ihrem Bild ab der 2. Auflage wurde zusätzlich Verwirrung gestiftet. Hier fügt sich auch die immer noch verbreitete falsche Vorstellung ein, die Grimms hätten selbst klassische Feldforschung betrieben. Das ist bekanntermaßen nicht richtig, da in den meisten Fällen die Erzähler und Erzählerinnen zu ihnen kamen oder gar schriftlich zugearbeitet wurde.
Der Vortrag von Dr. Simone Stiefbold (Zürich) „Das Alte im Gewand des Jungen: Altersvers und Wechselbalg“ beschäftigte sich mit einem sagen- und märchenhaften Wesen, welches häufig wie ein Säugling aussieht, aber eigentlich schon uralt ist. Bei dem Versuch, den Wechselbalg als solchen auffliegen zu lassen, indem man ihn zum Lachen oder zum Staunen bringt, bis das Wesen endlich (meist in Versen) spricht, erkennt man manchmal dessen wahre Identität. Dabei zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen Jungen und Alten sowie menschlichen und nichtmenschlichen Altersvorstellungen und vielleicht auch die historisch verbürgte Angst vor Säuglinsvertauschungen oder -unterschiebungen.
Nachdem die Referate sich bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich mit den Grimmschen Märchen beschäftigt hatten, ging es im Vortrag von Prof. Gudula Linck (Freiburg) um „Wege chinesischer Märchen“ und deren altersspezifische Erzählstoffe. Linck stellte dabei verschiedene Varianten und Parellelen derjenigen chinesischen Volksmärchen vor, welche von den unterschiedlichsten Glaubensströmungen und Lehren in China geprägt sind. Am Beispiel des international verbreiteten, sogenannten „Sintflutmotivs“ verdeutlichte die Sinologin die moralische Intention: Ein kleiner Junge hilft einer alten Bettlerin und dessen ganze Familie wird dafür belohnt. Hier kommen die kindliche Pietät und auch das Mitleid mit Tieren zur Sprache. Eine spätere literarische Bearbeitung des achtsamen Umgangs mit Tieren wurde von der Referentin am Fuchsgeistmotiv dargestellt: ein Fuchs kann sich nach hundert Jahren in eine schöne Frau verwandeln. Dabei spielt die damalige Verteufelung der Sexualität und die entsprechende Unterdrückung der Frau eine Rolle. Ein weiterer Aspekt war die Bearbeitung des Einsiedlermotivs mit der Suche nach dem philosophischen Ideal der Mitte. Zuletzt ging es um den Riesenvogel Peng, der mit dem Phönix aus unserer Kultur vergleichbar ist und damit das Thema von Alter, Tod und Wiedergeburt berührt.
Der nächste Vortrag „Über Väter in polnischen Volksmärchen aus Masowien“ stammte von der Erzählforscherin Katarzyna Grzywka (Warschau). Über die text‑
immanente quantifizierende Analyse von dreiundvierzig Volksmärchen, in denen Väter auftreten, ermittelte sie typische Vaterrollen in Märchen und stellte Fragen wie: Wer sind sie, was machen und wie agieren diese „Alten“? Die größte Gruppe bildeten Könige und die zweitgrößte Bauern oder Väter, deren sozialer Status nicht angegeben wird. Bei den Fragen nach dem Wie und nach dem Was klassifizierte sie drei Gruppen: Distanzierte Egoisten, fürsorgliche Betreuer und rücksichtslose Bewegungs- bzw. Handlungsauslöser. Wobei Töchter häufig Könige, die distanzierte Egoisten waren, zu Vätern hatten und Söhne Väter von eher niedrigem Stand, die aber fürsorglich waren.
Danach folgte der Vortrag „Die Jungen und die Alten in den tschechischen Märchen von Božena Němcova“ von Dr. Lubomir Sůva (Göttingen). Dafür stellte er Němcova und ihre für die Tschechische Nationalentwicklung wichtigen Märchen vor. Hier sind die Helden zumeist junge intelligente Frauen. Der Referent stellte zudem verschiedene Märchen vor, die Jugend und Alter thematisieren, z. B. „Kača und der Teufel“, in dem eine alte Jungfer eine große Rolle spielt oder „Die sieben Raben“, wo es eine junge, kluge Heldin gibt.
Daraufhin folgten wie jedes Jahr die Workshops. Uthers Veranstaltung galt dem Thema „Die Narren und Weisen. Alte Leute in Volkserzählungen“, während sich die Erzählforscherin Dr. Harlinda Lox (Gent) dem Thema „Verjüngungsrituale in der narrativen und visuellen Ikonographie“ zuwandte. Lox‘ didaktische Herangehensweise fokussierte den Motif- und den Typenindex. Mit Hilfe dieser Indices finden Fachleute die unterschiedlichsten Verjüngungsrituale, von denen einige schon häufiger während der Tagung erwähnt worden waren, wie das Wasser des Lebens oder die Altweibermühle. Bemerkenswert erschien Lox und den Teilnehmenden, dass der Verjüngungsvorgang nur wenig und ohne Emotionalität beschrieben wird. Nicht nur in den Texten sondern auch in Bildern werden Verjüngungen dargestellt wie z. B. der Jungbrunnen von Cranach. Leider war für die Bildbeispiele nicht mehr genügend Zeit.

An diesem Abend fand im nahen Volkach dann der Festakt zu den Preisverleihungen der Märchen-Stiftung Walter Kahn statt. Der „Europäische Märchenpreis“ wurde Prof. Dr. Juha Pentikäinen (Helsinki) für seine lebenslange Leistung in der Erzähl- und Märchenforschung verliehen [wir berichteten ausführlich im Märchenspiegel 3/18]. Der „Lutz-Röhrich-Preis“ für die beste studienabschließende Arbeit ging an Dr. Acakpo Constant Juladie Sedote (Bamberg) für seine Dissertation „Han oder Volksgesänge: Populare Lieder als Indikatoren für Weltanschauung und Glaubensvorstellungen der Mahi (Benin)“. Der „Gesonderte Förderpreis“ ging an Dr. des. Zhizi Yang (Beijing) für ihre Dissertation „Märchenadaptionen in Romanen und Novellen von Christoph Martin Wieland bis zu Thomas Mann – eine exemplarische Untersuchung“.

Am nächsten Tag ging es weiter mit Märchen aus anderen Ländern. In Dr. Angelika Hirschs Vortrag „Von Vätern und Ahnen – Ein norwegisches Märchen als Hort germanischer Mythologie“ wurde das Märchen „Der siebte Vater im Haus“ in den genaueren Fokus genommen. Die Vortragende nahm es als Beispiel für den Nachweis, wie sich in diesem Märchen Vorstellungen der Germanen konserviert hatten. Im Sinne der mythologischen Schule des 19. Jahrhunderts sah sie in diesem Text das germanische Familienbild der Großfamilie mit dem Vater als Oberhaupt gespiegelt, und erinnerte an die Seelenvorstellungen der Germanen, dass Seelen auf die eine oder andere Art weiter leben, sowie an die Vorstellungen von der Gleichzeitigkeit von Lebenden und Toten. Diese Motive der germanischen Mythologie zögen sich Hirschs Auffassung nach bis heute durch so ein nordisches Märchen.
Im Anschluss folgte der Vortrag von Prof. Sabine Wienker-Piepho (Jena/Freiburg) zum Thema „Alter und Altern in Sprichwort und Märchen. Widerspruch, Sinn und Unsinn sprachlicher Fertigware“. Dafür folgte sie der Definition, dass Sprichwörter festgefügte formelhafte Sätze sind, deren Herkunft anonym ist. Die Anonymität und Mündlichkeit teilt diese Gattung mit der der Märchen. Zum Alter gibt es sowohl negativ als auch positiv konnotierte Sprichwörter. Sie können die Altersleiden oder den Jugendwahn oder die Weisheit des Alters wiedergeben. Ein beliebtes Beispiel stellen die Lebensstufen dar, auf die sich auch die Sprichwörter berufen. Sie sind nie wertneutral, sondern geben die Urteile und sehr differenziert die unterschiedlichsten Stereotypen zum Thema Alter und Altern wieder.
Den Abschluss bildete Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann (Zürich) mit seinem Vortrag „Jacob Grimm: Über das Alter“. Er bezog sich darin auf die Rede von Jakob Grimm und auf dessen Ausspruch: „Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich“. Für Jakob Grimm stellte das geistige Arbeiten Lebenssinn dar. Dies spiegelt sich in seinem Alters- und Selbstverständnis wie auch im Wissenschaftsverständnis, und war zentral für seine gesamte Lebensauffassung. Die Wissenschaft sollte dabei auch lebendiger werden. Nach Auffassung des Referenten sei dies heute in Grimms Sprache deutlich sichtbar. Grimms Forderungen seien erste Ansätze zu einer Art der „kulturwissenschaftlichen Gerontologie“. Die Vielfalt, mit der zu unterschiedlichen Orten und Zeiten das Alter und Altern angesehen wurde und bis heute wird, solle – so Zimmermann – endlich noch gründlicher erforscht werden. Für Grimm hätten alle drei Teile Arbeit, Leben und Sprache ein Ganzes gebildet. Die Altersfrage könne man nach Grimm mit dessen vorbildlich „demokratischer“ Altersweisheit lösen. Jacob Grimms Ansichten zum Alter heben sich vom Stereotyp des gebrechlichen Alten ab. Sie zeigen vielmehr ein am Leben aktiv mitwirkendes Altenbild.
Auf der Tagung konnten viele neue Einblicke gewonnen werden, die durch die Vorträge, Workshops und anschließenden Diskussionen aber auch durch die Gespräche mit anderen Teilnehmenden gewonnen wurden. Als Studierende der Volkskunde/Kulturgeschichte der Universität Jena danke ich den Veranstaltern der Märchentagung für die Gelegenheit, diese neuen Erfahrungen, Eindrücke und Anregungen sammeln zu dürfen.

Marlene Brenner, Jena

Hier ein paar Eindrücke von der Preisverleihung am 20.09.2018

Hier geht es zur Laudatio von Prof. Dr. Tarmo Kunnas auf Prof. Dr. Juha Pentikäinen.

Zur Laudatio von Gundula Hubrich-Messow auf auf Dr. Acakpo Constant Juladie Sedote.

Zur Laudatio von Helga Zitzlsperger auf Dr. des. Zhizi Yang.