Laudation zu Diether Röths märchenhaftem hundertsten Geburtstag
Gehalten in Kassel am 14. April 2024 von Kristin Wardetzky
Lieber, verehrter Herr Röth, liebe Gäste,
will man sich heutzutage über bestimmte Themen oder Personen rasch informieren, greift man zum Internet und googelt. Gibt man dann z. B. Ihren Namen ein, lieber Herr Röth, dann stockt einem der Atem. Wurde das, was hier aufgelistet wurde, tatsächlich von einem einzigen Menschen geschaffen? Steckt dahinter nicht ein Team, eine Institution, die mit Sachverstand und wissenschaftlicher Akribie Unbekanntes entdeckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat?
Diether Röth – dieser Mann ist ein Phänomen: nicht nur sein Alter – 100 Jahre und 5 Monate – ringt uns höchste Achtung ab. Vor uns sitzt ein im geisteswissenschaftlichen und volkskundlichen Bereich konkurrenzloser PIONIER. Sie haben Neuland betreten und uns nicht nur verborgene Schätze aus aller Welt zugänglich gemacht, sondern auch deren kulturspezifischen Wurzeln und internationalen Verästelungen, was weit über eine reine Verlagsarbeit hinausgeht.
Als Sie 1971 den nach Ihrem Vater benannten Verlag als Inhaber übernahmen, lagen – man muss es so sagen – existentielle Kämpfe um dessen Überleben hinter ihnen beiden, die geprägt waren von politischen Zerreißproben in der Nazi-Zeit und den Anfangsjahren der DDR.
Ihr Vater hatte in Thüringen 1921 den ‚Urquell-Verlag‘, den späteren ‚Erich-Röth-Verlag‘ gegründet und bereits 1928 die ersten beiden Bände jener Reihe herausgegeben, die im Zentrum Ihrer Arbeit stand: ‚Das Gesicht der Völker‘ – eine Publikationsreihe, deren Herzstück dem internationalen Austausch galt, dem kulturellen Brückenbau zu mitunter weit entlegenen Regionen auf dieser Weltkugel – ein Programm von höchster Aktualität, insbesondere im Rahmen der gegenwärtigen politischen Debatten um Migration. In einer Verlagsankündigung von 1928 hieß es: „Begegnung mit den Menschen anderer Völker zu vermitteln, ist die Aufgabe der Sammlung ‚Das Gesicht der Völker‘. Aus dem Schaffen der Dichter, Schriftsteller und Denker der Gegenwart und noch zeitnahen jüngsten Vergangenheit und aus der Volksdichtung wählt die Sammlung, was die Besonderheit der betreffenden Völker erkennen läßt, und was Achtung vor dieser anderen Art zu wecken vermag‘ – ein programmatische Erklärung, die in den aktuellen Debatten um ‚Kulturelle Aneignung‘ eine Signalwirkung entfalten könnte.
Das Archiv für Zeitgeschichte in München gibt uns Aufschlüsse darüber, wie Ihr Vater, lieber Herr Röth, in der Zeit des Nationalsozialismus den Verlag und damit sein eigenes Gesicht versucht hat zu bewahren.
In aller Kürze nur so viel: Ihr Vater hatte 1929 hatte die Wochenschrift ‚Die Kommenden‘ übernommen, eine Dachzeitschrift zahlreicher Jugendbünde mit überregionalen Korrespondenzen von Riga bis New York. Als Otto Paetel, der Hauptschriftleiter der Zeitschrift, 1930 eigenmächtig zur Wahl der KPD aufrief, sagten sich die Bündischen scharenweise von den ‚Kommenden‘ los. Röth entließ Paetel pro forma, ließ ihn jedoch – teilweise unter Pseudonym – bis zu seiner Emigration 1935 weiterarbeiten. Bereits 1933 wurde die Zeitschrift zum Feindblatt erklärt (Baldur von Schirach, der Reichsjugendführer, nannte sie „das größte Hetzblatt gegen Hitler“). (Erich Röth wurde Konzentrationslagerhaft und Dauerverbot der Zeitschrift angedroht.) Um der Tarnung willen nannte er sie nun ‚Wille zum Reich’. 1935 übernahm Harro Schulze-Boysen die Herausgeberschaft. Wir alle kennen ihn vor allem durch seine Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe ‚Rote Kapelle‘. Er wurde 1942 hingerichtet.
Zur Absicherung – auch auf Rat von Schulze-Boysen – trat Erich Röth 1938 der NSDAP bei, wurde jedoch kurze Zeit später wieder ausgeschlossen. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen und der Verlag 1940 „wegen Zersetzung des nationalsozialistischen Ideengutes‘ geschlossen. 1941 wurde Erich Röth an der Front verhaftet und im Gestapo-Hauptquartier in Berlin in Einzelhaft wegen Vorbereitung zum Hochverrat gefangengesetzt und verurteilt. Nur „durch Versehen“ entging er der Hinrichtung, wurde entlassen – an die Front, zu einer Sanitätseinheit in Russland. 1944 wurde der Verlag, die Druckerei und teilweise auch die Wohnung der Familie durch Bomben vernichtet, Röths Frau kam durch Bombenabwurf ums Leben.
1947 erhielt Erich Röth durch die Sowjetische Militäradministration eine Verlagslizenz in Eisenach und griff sofort die der Völkerverständigung dienende Reihe ‚Das Gesicht der Völker‘ wieder auf – nach zwei, von Deutschland entfesselten Weltkriegen!
Ich habe diese Über-Lebenskämpfe des Vaters von Diether Röth nicht nur deshalb erwähnt, weil wir hieran sehen, welches ‚resiliente‘ Erbe Diether Röth in seinen Genen trägt – ein Gen, das aus der Kraft des Widerstehens seinem Kampf um ein eigenständiges Verlagsprofil zugrunde liegt. Die Erinnerung an die Kämpfe des Vaters sind auch aus einem weiteren politischen Grund unverzichtbar. Der Röth-Verlag – in Thüringen, also in der DDR, beheimatet – war ein Privatverlag. Solche Verlage wurden in der DDR in volkseigene Verlage umgewandelt. Erich Röth hatte durch seine Zusammenarbeit mit international agierenden Sammlern und fachwissenschaftlichen Kapazitäten aus aller Welt wohlwollende Reputation bei den DDR-Behörden erworben, und so wurde ihm empfohlen, mit dem F. A. Brockhaus-Verlag oder mit Rütten & Loening zu kooperieren – mit der verlockenden Aussicht eines gesicherten monatlichen Salärs von 1400 DM! Dennoch lehnte der Vater ab. Stattdessen stellte er 1954 den Antrag, eine Zweigstelle in Kassel zu eröffnen – hierbei ging es vor allem um ein ausreichendes Papierkontigent. Nach zähem Ringen, in dem Erich Röth bis zum Minister für Kultur, Hans Bentzien, und dem Präsidenten der Volkskammer der DDR, Johannes Dieckmann, vordrang, wurde ihm von DDR-Behörden 1955 eine Niederlassung in Kassel genehmigt. Es ist die einzige Genehmigung einer außerhalb der DDR entstehenden Zweigniederlassung in der Geschichte der beiden deutschen Staaten. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass ihm 1958 die Verlagslizenz entzogen wurde, und zwar begründet durch die haarsträubende Behauptung, er habe mit dem NS-Regime kooperiert. Die Versuche des Vaters, diese Unterstellungen durch Fakten – u. a. durch seine Zusammenarbeit mit Harro Schulze Boysen oder dem Kommunisten Curt Letsche – zu entkräften, blieben ohne Wirkung. Schikanen waren die Folge: So wurden Unikate, wie z. B. die Selbstbiografie des afrikanischen Märchenerzählers Simbo Janira (von der Jury der deutschen Buchhändlervereinigung für die Brüssler Weltausstellung ausgewählt), an den Verlag nach Eisenach, nicht aber an die Zweigstelle in Kassel geliefert.
Diether Röth, der in Göttingen Germanistik, Kunstgeschichte und bei Will-Erich Peuckert Volks- und Märchenkunde studierte, promovierte und sich in den Verlag eingearbeitet hatte, stand nach der Aufgabe des Verlages in Eisenach mit seinem Vater 1958 in Kassel vor dem Nichts – konkret in einem nicht beheizbaren, fensterlosen Kellerraum. Um seine und die Existenz des Verlages irgendwie zu sichern, verlegte sich Diether Röth aufs Auslieferungsgeschäft: Bepackt mit Märchenbänden – u. a. des Berner Sinwel-Verlages – zog er mit schwerem Bücherkarren zu ca. 600 Buchhandlungen, um die Verlagsprogramme vorzustellen und Kontakte zu knüpfen. Manchmal, wie er selbst sagt: „hätte ich am liebsten alles hingeschmissen – aber da war dieses aufregende Verlagsprogramm, war die beglückende Möglichkeit, Forschung und schöpferisches Gestalten zu verbinden. Das ließ mich nicht los“ (MS August 2007). Dieser 100jährige ist tatsächlich die Mensch gewordene Resilienz!
Wenn er von ‚aufregendem Verlagsprogramm‘ spricht – so benennt er damit den zentralen Punkt im Leben eines Verlegers und Forschers, der sich nicht dem Mainstream unterworfen hat, sondern mit aller Konsequenz Eigenständigkeit behauptet. Hier nur ein paar wenige Verweise:
1950 erscheint im Verlag „Der gefrorene Pfad. Mythen, Märchen, Legenden und Ahnengeschichten der Eskimos“. Herausgeber ist der Heidelberger Ethnologe Hans Himmelheber. Dieser Märchenband ist ein absolutes Novum, quasi ein Paukenschlag. Er wurde zum Programm der nun folgenden 48 Editionen der erwähnten, von seinem Vater 1928 begründeten Reihe „Das Gesicht der Völker“.
Von den bis 1991 erscheinenden Märcheneditionen beruhen 34 auf Originalausgaben der jeweiligen Sammler. Damit werden die Editionen des Röth-Verlages zum unverwechselbaren Pendant der ‚Märchen der Weltliteratur‘ des Eugen Diederichs Verlages. Die Texte beruhen zum Großteil auf Tonbandaufnahmen oder Stenogrammen der Sammler. In der nachfolgenden Editionspraxis wird nicht der Versuch unternommen, die Texte zu glätten und sie einem vermeintlichen Publikumsgeschmack anzugleichen. Im Gegenteil: Sie sollen den besonderen Ton der Erzählenden so weit wie möglich beibehalten. D. R. berichtet im Gespräch, dass er sein Ohr für die unverwechselbare Musikalität der jeweiligen Aufzeichnungen geschult habe beim Studium frühneuhochdeutscher Dichtung – so u. a. bei Jörg Wickram und dem „Fortunatus“ von 1509.
Im Verlag entwickelte er das vom Vater vorgegebene Profil weiter, das er als ‚geistige Architektur‘ bezeichnet. Im Zentrum stand das Bemühen um Völkerverständigung. Dem entsprechen auch die seit 1970 edierten, reich illustrierten Kollektionen ‚Erdkreisbücher‘ und seit 1976 ‚Die Morgenlandbücher‘, letztere in Kooperation mit dem Leipziger Kiepenheuer & Witsch Verlag herausgegeben (in Ost und West mit gleichem Verkaufspreis!). Daneben erscheinen in dem äußerst reich gegliederten Verlagsprogramm Bildbände wie z. B. „Java Masken“ von Heinz Lucas, „Ceylon Masken“ als Restbestände des Kiepenheuer-Verlages, „Romantik und Wirklichkeit der alten Mühlen“, „Die Feldscheunen aus Hessen“, Fjodor Gladkows Kindheitserinnerungen sowie ein russischer Schelmenroman von Matwej Komarow, „Die Ohrdrufer Bachs – Johann Sebastian Bachs ältester Bruder und seine Nachkommen“ und Alfons M. Dauers „Der Jazz und seine Ursprünge und seine Entwicklung“. Ab 1982 wird das Verlagsprogramm komplettiert durch die sparsam illustrierte Reihe „Deutsche Sagen“ sowie durch ‚Die kleine Märchenzeitung‘, in der D. R. die Märcheneditionen des Verlages ausführlich kommentiert.
Als außerordentlich erfolgreich erwies sich die Zusammenarbeit mit dem in Westdeutschland zunächst völlig unbekannten Corvina-Verlag aus Budapest. Das ‚Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel‘ bezeichnet diese Kooperation als ‚Bücher-Brückenschlag‘ und Diether Röth als ‚Kulturbotschafter‘. Er übernahm die Alleinauslieferung des Budapester Verlages für die gesamte Bundesrepublik und die Schweiz, führte ihn auf dem Büchermarkt ein und betreute ihn 30 Jahre lang.
Durch die Vermittlung von Walter Kahn, mit dem er mehrfach gern zusammenarbeitete, kam es zum Kontakt mit der Europäischen Märchengesellschaft. D.R. redigierte und edierte ihre Veröffentlichungen und Kongressbände. 1991 gab er das Handbuch ‚Märchen und Märchenforschung in Europa‘ heraus, in welchem Beiträge von 27 Fachleuten aus ganz Europa versammelt sind.
Am Ende noch ein kurzer Blick auf das „Kleine Typenverzeichnis der europäischen Zauber- und Novellenmärchen“, auf das ich in meinen Lehrveranstaltungen ständig zurückgreife, das aber – zum großen Bedauern der Studierenden – vergriffen ist. Angeregt durch Walter Kahn wollte Diether Röth für Märchenfreunde ein praktikables Handbuch schaffen, um mit dem Typenregister von Antti Aarne/Stith Thompson (AT / ATU) nach internationalen Varianten suchen zu können. Innerhalb von drei Jahren hat er ca. 7000 Märchen (alles ohne Computer und ohne studentische Hilfskräfte!) durchbuchstabiert. Er konzentrierte sich auf die Zauber- und Novellenmärchen, schreibt aber nicht einfach ab, was er im AT-Katalog vorfand, sondern korrigierte fehlerhafte Typisierungen im AT-Katalog und zog mitunter weitaus mehr Varianten mit ein als im AT-Katalog vermerkt – ein für einen nicht Akademiker höchst verdienstvolle Leistung. Die Reduzierung der jeweiligen Typen auf deren Grundstruktur, die Auflistung internationaler Varianten und der entsprechenden Sekundärliteratur, ergänzt durch fachkundige Anmerkungen zum jeweiligen Typ machen dieses Werk zu einer Fundgrube und einem Werkzeug für diejenigen, die nach Anregungen im internationalen Erzählgut suchen. Eine Neuauflage wäre dringend geboten! Walter Scherf, der diesem Unternehmen zunächst kritisch gegenüberstand, meinte, dass es den unübersehbaren Schatz wie kein anderes Nachschlagewerk zu erschließen vermag. Wer könnte es besser wissen als er! Und Lutz Röhrich nennt dieses Typenverzeichnis ‚eine Orientierungshilfe ersten Ranges‘, ein ‚hoch verdienstvolles Nachschlagewerk‘, das er auf die gleiche Höhe von Bolte-Polivkas Nachschlagewerk oder Walter Scherfs Märchenlexikon stellt (M, Nov. 2003).
100 Jahre ist Diether Röth im letzten Jahr geworden. Ein Leben, das uns unbekannte Wege in andere Kulturen ermöglicht, das uns teilhaben lässt an den Phantasmagorien von Menschen in anderen Erdteilen. Was für eine Leistung im Zeitalter der Globalisierung und in der Suche nach Verständigung in der krisengeschüttelten Gegenwart.
Ein paar Eindrücke der Feierstunde …
Die Bilder wurden uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Eike Kinne ©