von Heidrun Alzheimer
Märchen und Theater, 4.-6.9.2024
Den furiosen Auftakt der Münsterschwarzacher Märchentage 2024 bildete am Mittwoch Nachmittag, 4. September 2024, Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho. Sie nahm eine historische Rückschau auf das Vordringen des Märchens auf die Bühne vor. Sie setzte ein bei den mittelalterlichen, christlich konnotierten Mysterienspielen über die Fastnachtsspiele, das höfische Theater, Krippenspiele, Märchenopern und Schattenspiele der Romantik und endete bei den „Stars an Fäden“ im 20. Jahrhundert, zu denen zweifellos Kater Mikesch von der Augsburger Puppenkiste zählt. Wienker-Piepho verwies auf die Rolle von Religion und Brauch in diesem Prozess, aber auch auf schichtspezifische Phänomene wie z. B. den Bänkelsang, der bereits im Mittelalter einen niederschwelligen Zugang zu dramatischen Inhalten erlaubte.
Vom Allgemeinen zum Besonderen lenkte Prof. Dr. Hans-Jörg Uther, nach über 40jähriger Mitarbeit an der Enzyklopädie des Märchens führender Erzählforscher in Europa, das Auditorium mit seinem Vortrag über „Hans Sachsens Fastnachtspiel von den drei Blinden“. Körperliche Beeinträchtigungen zählen seit seiner Dissertation über „Behinderte in populären Erzählungen“ (1980) zu einem seiner Schwerpunkte in Forschung und Lehre, wovon auch dieser Vortrag profitierte. Sachs‘ Stücke behandeln in der Alltagswelt angesiedelte Konflikte, oft solche, die das Verhältnis der Geschlechter zueinander betreffen. Gerne demonstriert Sachs, wie Menschen in peinliche Situationen geraten. Seine Protagonisten sind liebestolle Kleriker, bestechliche Ritter, tölpelhafte Ehemänner, betrogene Betrüger und alte Männer mit jungen Frauen, die sich einbilden, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Der erste Beleg für den Stoff von den drei Blinden datiert vom frühen 13. Jahrhundert; durch das Eulenspiegel-Buch wird das Motiv im 16. Jh. populär, und von da aus spielen Behinderte durch die Verletzung des Ebenmaßes eine zentrale Rolle bei der Belustigung des Publikums. – Kongenial ergänzt wurde Uthers Vortrag durch vier von der Düsseldorfer Märchenerzählerin Angelika Schreurs dargebrachten Schwänke des 19./20. Jahrhunderts mit inhaltlichem Bezug zu den Fastnachtspielen von Hans Sachs.
Prof. Dr. Siegfried Becker (Marburg) konnte krankheitshalber nicht nach Münsterschwarzach kommen; sein Manuskript über „Theater am Hof und der Hof als Theater. Der Fürsten- und Königshof im frühneuzeitlichen Theaterspiel und im Märchen“ wurde daher von Prof. Dr. Heidrun Alzheimer (Bamberg) verlesen. Becker stellte Johannes Bolte (1858–1937), einen der ganz Großen der Märchenforschung, in den Mittelpunkt seines Beitrages. Er vertrat die Ansicht, dass Bolte das Märchen im Spiegel der höfischen Theaterkultur deshalb „so kongenial erfassen [konnte], weil er nicht Historiker und nicht nur Literaturwissenschaftler war, […] sondern auch Volkskundler. Bolte, so konnte Becker deutlich machen, hatte den Vorteil, dass er Dramen und Volksmärchen gleichermaßen achtete und literaturgeschichtliche wie volkskundliche Interpretationsansätze zu verknüpfen wusste.
Dr. Luisa Rubini Messerli schlug am Beispiel des Aschenputtel-Märchens den Bogen vom Barock-Autor Giovan Battista Basile zum italienischen experimentellen Theater des 20. Jahrhunderts. Basiles kanonisches Märchen wird in eigenwilligen modernen Inszenierungen mit anderen, sowohl weltlichen als auch religiösen Varianten in Beziehung gesetzt, hinterfragt, verspottet, dekonstruiert und neu zusammengesetzt, letztlich aber in der Darstellung eines weiblichen Schicksals grundsätzlich bestätigt. In ihrem Fazit verwies Rubini Messerli darauf, dass Aschenputtels Schicksal sich „jenseits des Happy Ends mit sozialem Aufstieg vom Mädchen zur Frau zyklisch wiederholt“.
Am Donnerstag Morgen führte Prof. Dr. Kristin Wardetzky (Berlin) das Auditorium auf Berliner Bühnen der Jahre 1844–1991. Der Blick auf ausgewählte Beispiele aus der Geschichte der Berliner Theater mit Schwerpunkt auf der DDR-Zeit zeigte das Märchen als Metapher, in der sich ein diktatorisches System preisgibt und sich am Ende selbst zerstört. Bis in die 1950er Jahre hinein, so Wardetzy, wurde in der sowjetischen Besatzungszone um den Wert des Märchens gestritten und dieser am Ende akzeptiert. Zum Standard gehörten Grimmsche Texte und russische Märchen, allerdings geprägt durch eine vordergründige Didaktisierung. So spielte das „Tapfere Schneiderlein“ in der Zeit des niedergehenden Absolutismus und des sich emanzipierenden Bürgertums. Der Wunsch nach einem aufgeklärten Monarchen half in dieser DDR-Fassung dem Schneiderlein auf den Thron; er wird ein gerechter Herrscher und verkörpert damit das Wunschbild dieser Epoche. – In der sehr angeregten Debatte im Anschluss an diesen dichten Vortrag ging es u. a. um die Frage, worauf die Denkfigur gründet, dass der Nationalsozialismus von den Grausamkeiten der Grimmschen Märchen herrühre. Auch Bruno Bettelheim, Mitglied der Alliierten-Kommission, war der Überzeugung, das Konzentrationslager sei eine Folge der deutschen Märchentradition gewesen. Anstelle einer Antwort wurde von mehreren Diskutantinnen darauf verwiesen, dass Grimms Märchen ja gar nicht deutsch, sondern in weiten Teilen französisch und auch in der Nachkriegszeit bereits international gewesen seien.
Eine eigene Sektion war dem Motiv des Drachentöters (ATU 300) gewidmet. Zur Einstimmung trug Dr. Helmut Groschwitz eine litauische Version des Drachentöter-Märchens vor, die, 1887 gesammelt, sich heute im Archiv der Enzyklopädie des Märchens in Göttingen befindet. Titelfigur ist hier Jürgis (Georg), der achte Sohn einer armen Familie, für den niemand mehr Pate stehen wollte. Ungetauft wurde er aus dem Haus gejagt, macht aber durch seine Redlichkeit sein Glück und gewinnt die Königstochter zu Frau.
Dr. Christian Mächler, Universität Bern, präsentierte anschließend online unter der Überschrift „Evgenij Schwarz, der Drache. Das Märchen als Politsatire“ seine vor kurzem abgeschlossene Dissertation. Die Märchenkomödie erzählt, wie eine Stadt von einem Drachen tyrannisiert wird, der jedes Jahr eine Jungfrau verlangt. Die Stadtgemeinschaft meint, es sei besser einen eigenen Drachen zu haben, als einen fremden und ergibt sich in ihr Schicksal. Lanzelot befreit die Stadt schließlich. Im Zentrum der Dissertation mit dem Untertitel „Theater als Staatsaffäre“ steht die Frage, wie es dazu kam, dass das Drachentöter-Stück, das offen Kritik an der Diktatur übte, in der DDR 1965 am Deutschen Theater in Ost-Berlin überhaupt aufgeführt werden konnte. Mächler hat es herausgefunden: Die Inszenierung wurde als westdeutsches Stück deklariert und Hitler als Westdeutscher dargestellt. Damit durfte es in der DDR aufgeführt werden. 1971 spielte in Westdeutschland Wolf Biermanns „Der Dra-Dra. Die große Drachentöterschau“ in den Kammerspielen München eine erhebliche Rolle bei der Absetzung von Hans-Jochen Vogel als Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt.
Dr. Helmut Groschwitz behandelte das Drachentöter-Motiv als Immaterielles Kulturerbe. Im Zentrum des Historischen Schauspiels „Der Drachenstich zu Furth im Wald“, das 2018 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden ist, steht der Kampf gegen den Drachen als Inkarnation des Bösen. Bis ins 18. Jahrhundert war der Drachenkampf in Furth als Inszenierung der Georgs-Legende Teil der lokalen Fronleichnamsprozession, wurde verboten und im 19. Jh. wieder aufgenommen, nach Auseinandersetzungen mit dem örtlichen Klerus 1879 schließlich profaniert. Inzwischen sind jedes Jahr rund 1300 Further und Furtherinnen in die Aufführung involviert. Im aktuellen Stück, das seit 2006 aufgeführt wird, hat sich – wie Groschwitz herausgearbeitet hat – die Rolle des Drachen verändert: War er lange Zeit Symbol für das Böse an sich, so wird als das Böse jetzt der Krieg gedeutet, der als Folge von Intoleranz und Verbohrtheit gelesen wird. Die „Schuld“ liegt jetzt bei den Menschen, die den Krieg vom Zaun gebrochen haben, und der Drache wird zum Symbol des Leids, das durch die kriegerischen Handlungen ausgelöst wird. Das macht das Stück wieder sehr modern. Weltweite Aufmerksamkeit wird seit 2010 dem Drachen „Fanny“ zuteil, der als größter Schreit-Roboter der Welt bei dem Umzug mitgeführt wird.
Theaterinszenierungen des Blaubart-Mädchenmördermotivs im 18. Und 19. Jahrhundert waren Gegenstand des Vortrags von Prof. Dr. Alfred Messerli (Zürich). Er arbeitete heraus, dass erst die Bühne das kritische und parodistische Potential dieses Stoffes zu realisieren vermochte. Dabei resümierte er die unterschiedlichen Positionen zur Dramatisierung epischer Stoffe; so glaubt die Dramaturgin Julie Paucker beispielsweise, dass Märchen zu den „besten Geschichten aller Zeiten“ zählen, und deren Einverleibung durch das Theater unproblematisch sei. Andere, wie Margarete Kober in ihrer Dissertation von 1925, sehen Drama und Märchen als nicht kompatibel an. Wie und dass es funktionieren kann, bewies der Librettist Jean-Michel Sedaine mit der Opéra comique „Raoul Barbe-Bleue“, die bis 1818 europaweit breit rezipiert wurde. Sedaine gab der weiblichen Hauptfigur einen Namen und fokussierte das Geschehen auf sie. Außerdem verlegte er die Handlung ins Mittelalter und ließ Blaubart als Ritter auftreten. Der zentrale Unterschied aber liegt darin, dass Blaubarts Grausamkeit auf der Bühne nicht wie im Märchen erzählt und behauptet wird, sondern gezeigt und vorgeführt.
„Wandernde Puppenspieler und ihre Repertoires“ waren das Thema von Dr. Marta Famula, Leiterin des Bamberger Marionettentheaters. Sie zeigte die Entwicklung wandernder Marionettenbühnen im deutschsprachigen Raum seit dem 17. Jahrhundert auf. Besonders in Gegenden, in denen breite Volksschichten zur Deckung ihres Lebensunterhalts handwerkliche Techniken wie das Schnitzen und Modellieren praktizierten, waren die Voraussetzungen für die Fertigung starrer oder beweglicher Figuren günstig, so etwa im Erzgebirge. Entsprechend gut erforscht ist die Tradition der Wandermarionettenbühnen in Sachsen mit seiner bedeutenden Dresdner Puppentheatersammlung. Ein besonderes Augenmerk legte die Referentin auf das Volksschauspiel „Doctor Johann Faust“ und der darin prominenten komischen Figur des Hans Wurst. Er verkörpert die beiden für das Verständnis der Wandermarionettenbühnen tragenden Komponenten: das befreiende Lachen des Publikums und die potenzielle Gefahr eines Auftrittsverbots.
Helga Zitzlsperger konnte für ihr Referat in Münsterschwarzach aus ihrem jahrzehntelangen Erfahrungsschatz als Lehrerin schöpfen. In einem beispielgesättigten Vortrag legte sie dar wie Kinder ihre Bedürfnisse aktiv in eine Märchenhandlung einbringen, wie sie dabei sorglos im freien Rollenspiel Teile verändern, manipulieren und sich letztendlich das Märchen höchst subjektiv aneignen. Im Fokus ihrer Ausführungen standen Projekte mit entwicklungsverzögerten Kindern einer Vorschule und mit Schülern eines Gymnasiums der Sekundarstufe I. Zitzlsperger verwies auf die vielfältigen Vorbehalte gegen Märchen (Frauenfeindlichkeit, Grausamkeiten, „Kinderkram“) und plädierte mit ihrer Analyse leidenschaftlich für die Einsicht, wie didaktisch und psychologisch ertragreich Märchen besonders durch Erzählen und freies Inszenieren sein könnten, denn solche kleinen epischen Formen vermitteln, so Zitzlsperger, „Sprachförderung, Resilienz, Verständnis für höhere Literatur, ästhetisches Lernen“ und erhöhen nicht zuletzt die Lernkompetenz.
Dr. Lubomír Sůva (Göttingen) berichtete über seine Märcheninszenierungen in Brünn an der Theaterfakultät der Janácek-Akademie für Darstellende Künste. Dort gibt es einen Schwerpunkt „Pantomime und Bewegungstheater“ und damit einen der ersten Studiengänge für Gehörlose. Begründet wurde der Studiengang durch Zoja Mikotová, die bei zahlreichen Märcheninszenierungen auch Regie geführt hat. Ihre Inszenierungen sind international sehr erfolgreich, u. a. weil die Sprachbarriere wegfällt. Am Beispiel der Märchen „Das Marienkind“, „Hänsel und Gretel“ und „Feuervogel und Feuerfuchs“ erläuterte Sůva die Prinzipien der pantomimischen Dramatisierung, die von der extremen Kürzung lebt. In Filmausschnitten belegte er eindrucksvoll die schauspielerische Leistung der Gehörlosen; um auch hörende Menschen anzusprechen, sind die Stücke mit Musik unterlegt.
Christine Shojaei Kawan (Göttingen), die für das Konzept der Tagung verantwortlich zeichnete, beschäftigte sich im abschließenden Vortrag mit dem Laientheaterspiel, „einer Liebhaberei, die alle Gesellschaftsschichten erfasst“. Sie strich den oberbayerischen Landkreis Rosenheim mit dem seit 1675 aktiven Volkstheater Flintsbach, den Ritterschauspielen in Kiefersfelden und den religiösen Schauspielen von Bad Endorf als besonders aktives Zentrum des Laienspiels heraus und wies auf die vielen Einheimischen hin, die entlang der deutsche Märchenstraße von Hanau bis nach Bremen für ihre Feriengäste und für Wochenendbesucher spielen. In ihrer Jugend selbst aktiv in der Göttinger Laienspiel-Szene, lautete ihr Fazit: Amateurtheater ist nicht der kleine Bruder des großen Theaters. Auch das Amateurtheater kann Exzeptionelles leisten.
Workshops
Zwei Workshops luden die Tagungsteilnehmenden am Donnerstag Nachmittag dazu ein, selbst Theater zu spielen (Lubomír Sůva) bzw. Schattenspielfiguren zu basteln (Jutta Schmitt, Plastisches Theater Hobbit, Würzburg).
Rahmenprogramm
Großes Vergnügen bereiteten Corina Roeder (Erzählerin) und Isolde Sammler (Cello) mit Szenen aus dem Kamishibai-Theater der Hobbit-Bühne Würzburg. Zu Scherenschnitt-Bildern von Annette Wiesner wurden „Wassilissa und der Feuervogel“ und „Die sechs Schwäne“ aufgeführt.
Beim feierlichen Empfang im Volkacher Schelfenhaus hat die Märchen-Stiftung Walter Kahn den Volkskundler und Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Walter Puchner (Athen), der wie kein anderer die Brücke schlägt zwischen Märchen und Theater, mit dem Europäischen Märchenpreis 2024 geehrt. Dr. Evelin Ruhnow wurde für ihre Dissertation an der Universität Duisburg-Essen über „Spielarten des Religiösen im deutschen Märchen um 1800. Studien zu den Märchensammlungen von Wieland, Musäus, Naubert, den Grimms, Hauff & Bechstein“ mit dem Lutz-Röhrich-Preis 2024 ausgezeichnet.
Die Preisträgerin des Gesonderten Förderpreises 2024, Alexandra Rietiker, konnte leider nicht persönlich an der Feierstunde teilnehmen (Anm. d. Red.).