Bericht zu den Märchentagen 2025

von Heidrun Alzheimer

Außergewöhnlich rege war die Beteiligung an den Märchentagen 2025, zu denen die Märchen-Stiftung Walter Kahn vom 17.–19.9.2025 nach Münsterschwarzach eingeladen hatte. Organisiert von Prof. Dr. Holger Ehrhardt (Universität Kassel) und Prof. Dr. Heidrun Alzheimer (Universität Bamberg) waren sie dem Thema „Märchen und Krieg“ gewidmet. Insgesamt zwölf Referate beleuchteten die komplexe Beziehung zwischen Krieg und erzähltem Wort. Alten Epen und Heldensagen ist die Thematik eingewoben; in diesen Erzählungen treten Helden und Antihelden gegeneinander an; ihre Konflikte sind in großem Maßstab dargestellt. In der Welt der Märchen begegnen wir einer subtileren Art der Verarbeitung – den „Kriegsspuren“, wie wir sie nennen können. In den Märchen finden wir keine kriegerischen Heldentaten, sondern Bilder von Verlust von Heimat und Identität, und die oft unsichtbaren Narben, die Kriege in der Seele der Menschen hinterlassen.
Zur Eröffnung der Tagung gab Prof. Dr. Heidrun Alzheimer einen Überblick über die unterschiedlichen Darstellungsweisen kriegerischer Auseinandersetzungen in Schwank, Sage, Lied, Erinnerungserzählung und im Märchen. Die an Kriege geknüpften Erinnerungen, die Angst vor neuen Kriegen und die Hoffnung auf Frieden verdichten sich in historischen Flugblättern, auf Bildern, in der Literatur ebenso wie in populären Erzählungen. Sie verwies mit Seitenblicken auf den „Krieg der Geschlechter“ und den „Krieg der Tiere“ auf die Vielschichtigkeit der kulturellen Dimension des Phänomens Krieg. Neben den Erinnerungen an vergangene Kriege kursieren immer auch Informationen über Kriege in anderen Teilen der Welt, so wie wir das momentan mit dem Krieg im Nahen Osten und in der Ukraine tagtäglich in den Nachrichten erfahren.
Prof. Dr. Hans-Jörg Uther (Göttingen) holte die Zuhörenden für sein Referat über „Kriegslisten als literarische Motive in Volkserzählungen“ beim sprichwörtlichen Trojanischen Pferd ab und spannte von da einen weiten Bogen bis zu den zahlreichen ätiologischen Lokalsagen des 19. Jahrhunderts, die von raffinierten Kriegslisten findiger EinwohnerInnen berichten. Ein häufig wiederkehrendes Motiv ist der von den hungernden Belagerten auf der Zinne spazieren geführte gemästete Ochse, mit dem sie den Anschein erwecken, noch lange durchhalten zu können und so die Belagerer resignieren lassen. Als Wandersage in vielen Orten ist das Motiv der treuen Ehefrauen bekannt, allen voran in der Sage von den „Weibern von Weinsberg“. Als ihnen der Feind erlaubt, mit dem Liebsten, was sie haben, abzuziehen, tragen sie ihre Männer huckepack aus der belagerten Stadt und erreichen mit dieser selbstlosen Handlung die Befreiung aller. – Uthers theoretische Ausführungen illustrierte anschließend die Erzählerin Angelika Schreurs (Düsseldorf) durch mitreißend vorgetragene Märchen von List und Tücke.
Christine Shojai Kawan (Göttingen), jahrzehntelang Mitglied des Redaktionsteams der „Enzyklopädie des Märchens“ und Redakteurin des Aufsatzteils der Zeitschrift „Fabula“, widmete ihr Referat der Figur des hungrigen, mittellosen „abgedankten Soldaten“. Sie hatte dafür die Märchen nach Realitätsfetzen über das Nachkriegslos der nicht mehr diensttuenden Soldaten durchkämmt, nach Widerspiegelungen der soldatischen Lebensumstände, der Kriegs- und Nachkriegswirklichkeiten und der soldatischen Wunschgedanken durchsucht. Neben den nicht mehr gebrauchten Soldaten gibt es die Zwangsabgedankten, die Invaliden, wie wir einen auf dem Tagungsflyer sehen: ein Mann mit Holzbein und Krücken, der Geschichten erzählt, umringt von einer neugierigen Zuhörerschar. Ferner treffen wir in den Märchen auf Deserteure, die sozusagen selber abgedankt haben, ganz wie jener sächsische König, der bei seiner Abdankung gesagt haben soll: „Macht euern Dreck alleene“.
Friedburga Lange und Dagmar Krohn von der Papiertheaterbühne Bamberg gestalteten mit dem Schauspiel „Undine“ das Abendprogramm. Dazu hatten sie ihre aus Bamberg mitgebrachte Papiertheaterbühne mühevoll im Vortragssaal aufgebaut. Dem staunenden Publikum präsentierten sie außerdem eine Kulisse des Marionettentheaters Bamberg von 1821 aus dem Stück „Das Käthchen von Heilbronn“; Undine und Käthchen verbindet ihre aufopferungsvolle Liebe zu einem Ritter.

Abb.: Auszug aus der Papiertheaterbühne Bamberg am Abend des 17.9.25 © Barbara Maikranz (Teilnehmerin der Märchentage).

Den Vortragsreigen des zweiten Tages eröffnete der Preisträger des Europäischen Märchenpreises 2025, Dr. Christoph Schmitt (Rostock). Er referierte über „Krieg, Zerstörung und Heilung im Märchen- und Sagenfilm“ und stellte Überlegungen an zu der Frage, wie verbindlich die Vorlagen gehandhabt werden und ob man daher von „Märchenfilmen“ oder besser von „Filmmärchen“ sprechen sollte. Das mündlich erzählte Märchen ist charakterisiert durch Raum- und Zeitlosigkeit; die filmische Bearbeitung dagegen muss diese Rahmung konkretisieren. Häufig geschieht diese Konkretisierung durch die Einbettung der Handlung in Kriegsschauplätze. „Flache“ Figuren des Märchens werden im Film zu Charakteren. Illustriert hat Schmitt seine Thesen anhand des sowjetischen Märchenfilms „Ilja Muromez“ von Alexander Ptuschko (1956), der im 12. Jh. zur Zeit der Kiewer Rus spielt. Sein zweites Filmbeispiel „Jorinde und Joringel“ hat die Handlung in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges verlegt und dieser bildet nur die Hintergrundfolie für das Geschehen; das – so Dr. Susanne Hose in der anschließenden Diskussion – sei typisch für den DDR-Märchenfilm gewesen. Kriege spielten da nur eine strukturelle Rolle. Grausamkeit, so Schmitt, wurde nur so weit geschildert, dass man die Not des Helden erkannte. Dann kommt die (Er-)Lösung, und dem Märchenhelden geht es wieder gut.
„Soldaten als Erzähler von Märchen“ stellte Prof. Dr. Alfred Messerli (Zürich) vor. Auf Soldaten als Gewährspersonen und Erzähler haben bereits Jacob und Wilhelm Grimm zurückgegriffen. Seit dem 19. Jahrhundert wurden Soldaten systematisch nach Märchen und anderen volksliterarischen Genres, etwa Lieder, befragt. Erste Ergebnisse dieser Bemühungen finden sich in den Deutschen Hausmärchen (1851) von Johann Wilhelm Wolf (1817–1855). Großangelegte Erhebungen folgten auf deutscher Seite während des Ersten Weltkrieges durch Wilhelm Doegen (1877–1967) und seine Mitarbeiter in Kriegsgefangenenlagern auf deutschem Boden. Für den Zweiten Weltkrieg sind die Arbeiten Albrecht Lehmanns hervorzuheben, die sich dem Erzählen unter deutschen Soldaten in Gefangenschaft widmen. In therapeutischem Sinn funktionierten die „Weihnachtsmärchen“, die im Ersten Weltkrieg, von Soldaten verfasst, in Regimentszeitungen und Publikationen der Heimatfront erschienen und nach Kriegsende in Anthologien gesammelt wurden. Diese Texte verbinden sentimentale und propagandistische Züge, greifen volksliterarische Motive auf, wie etwa den selbstgrabenden Spaten, der im „Schützengrabenmärchen“ den verschütteten Soldaten rettet, thematisieren Kriegserfahrungen und zeichnen sich häufig durch eine traumähnliche Spannungslosigkeit – Ausdruck eines intensiven Friedenswunsches und der Sehnsucht nach einem Alltag fern der Katastrophe – aus.
„Kriegsspuren in den Kinder- und Hausmärchen“ waren das Thema von Prof. Dr. Holger Ehrhardt (Kassel). Er konnte eindrucksvoll nachweisen, wie deutlich sich die großen Kriege des 17. bis 19. Jahrhunderts (Dreißigjähriger Krieg, Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg, Siebenjähriger Krieg, die Napoleonischen Kriege) im ersten und zweiten Band der KHM (1812/15) spiegeln. Dazu analysierte er exemplarisch das von Johann Friedrich Krause beigetragene Märchen „Von der Serviette, dem Tornister, dem Kanonenhütlein und dem Horn“ (KHM 37a), das vor der Folie des spanischen Aufstands gegen Napoleon (1808) spielt. Die Erzählung enthält sozialhistorische Anspielungen, indem sie zeigt, wie das Leid vagierender Soldaten Träume von schlaraffenland-ähnlichem, materiellem Überfluss hervorbringen kann. Ehrhardt konnte detailreich belegen, dass sich in den KHM häufig biographische Bezüge der Beiträger finden. August von Haxthausen beispielsweise hat das Märchen „Die Krähen“ (KHM 107a) aus den Befreiungskriegen geliefert. In einem Brief an Wilhelm Grimm vom 20.12.1813 berichtet er, dass diese Geschichte ihm nächtens beim Wacheschieben von einem Posten erzählt worden sei; drei Tage später sei der Gewährsmann direkt hinter ihm gefallen, was ihm das „Mährchen sehr merkwürdig“ erscheinen ließ. Erhellend auch die umfangreiche Sammlung militärischer Begriffe wie „blutiger Krieg, „auf die Parade ziehen“ oder „Als nun die Zeit kam, wo der Krieg angehen sollte“ in den von Dorothea Viehmann beigetragenen Märchen „Die kluge Bauerntochter“ (KHM 94), „Des Teufels rußiger Bruder (KHM 100) und „Der Zaunkönig und der Bär (KHM 102).
Dr. Silvie Lang, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Digitale Märchen-Handbibliothek von Jacob und Wilhelm Grimm“ an der Universität Kassel, widmete sich den „Kriegsmotiven in den Märchen von Franz Xaver Schönwerth“. Sie hob ab auf Geschichten, in denen der Krieg als Projektionsfläche für heroische Bewährung dient und zeigte auf, dass der Krieg nicht nur politische Realität war, sondern mit seinen Schreckensvisionen auch erzählerische Wirklichkeit. Märchen erscheinen demnach keineswegs als harmlose Kindererzählung, sondern als Abbildung vergangener Wirklichkeiten.
PD Dr. Luisa Rubini Messerli (Zürich) trat nicht mit dem im Programm ausgedruckten Thema „Deutsche Weihnachtsmärchen im Krieg“ vor ihr Publikum, sondern handelte von der Beschäftigung der Schriftstellerin Natalìa Ginzburg (1916–1991) und ihres Sohnes Carlo (geb. 1939) mit einigen von einem Dienstmädchen erzählten Märchen während ihrer kriegsbedingten Verbannung in die Abruzzen in den Jahren 1940–1943. Rubini Messerlis Interesse galt dabei den unterschiedlichen Mechanismen der Erinnerung und der Funktion von Illustrationen und Reimen: während Natalìa diese Märchen in ihr literarisches Werk einfließen lässt, unterstreicht der Historiker Carlo die Bedeutung der ihm als Kind erzählten Märchen für seine spätere Forschung über Hexerei. Natalìa haderte damit, dass sie der Kinder wegen keine Muße zum Schreiben mehr hatte, fühlte sich zugleich aber als schlechte Mutter, weil sie sich ihren Kindern nicht voll und ganz zu widmen im Stande war. Demnach beeindruckte sie besonders nachhaltig das Märchen von einer Stiefmutter, die ihr Stiefkind in Abwesenheit des Vaters kochte und es ihm bei seiner Heimkehr als Suppe auftischte. Als die Knochen im Teller das verrieten, tötete der Vater seine Frau. Die Aggression der Stiefmutter im Märchen findet also sofort ihre exemplarische und endgültige Bestrafung. Diese Problematik taucht nicht nur in Ginzburgs literarisch-autobiografischen Essay „Mein Beruf“ auf, sondern vor allem auch in ihren frühen literarischen Werken.
Ihrer Profession als Schulpädagogin blieb die seit vielen Jahren immer wieder als Referentin bei der Märchenstiftung agierende Helga Zitzlsperger (Bermatingen) auch dieses Mal treu mit ihrem Thema „Wie Kinder und Jugendliche mit Mangelzuständen und ihren ‚Kleinkriegen‘ umgehen“. Sie ging in ihrem Vortrag auf Entwicklungen von Trotzphase und Pubertät ein, die chronische Kleinkriege zwischen Eltern/Erziehenden und Kindern erzeugen. Im Fokus standen die Reaktionen der Erziehungsberechtigten (Bestrafung oder Unterstützung), wie sie in der Literatur der sog. schwarzen Pädagogik, besonders aus dem 18. Jahrhundert, dargestellt sind. Zitzlsperger suchte in den Märchen der Brüder Grimm, die oft genug wegen ihrer Grausamkeit kritisiert worden sind, Spuren dieser „schwarzpädagogischen Einflüsse“. Resümierend hielt sie fest, dass „die Grimms […] eine große Fülle von möglichen Erziehungsmodellen […] gestaltet haben“, letztlich aber doch immer auf Seiten der Kinder und Jugendlichen stehen.
Prof. Dr. Hiroko Nishiguchi von der Waseda-Universität Tokio machte die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer mit ihrem Referat über die „Militärische Erziehung im japanischen Märchen: Momotaro“ mit einer der populärsten Figuren der jüngeren japanischen Kulturgeschichte bekannt. Das erstmals 1885 veröffentlichte Märchen erzählt davon, dass ein altes, kinderloses Ehepaar ein Wunderkind empfängt, das einem aus dem Fluss gefischten Pfirsich entsteigt. Der starke, gütige Junge verlässt seine Eltern, um böse Dämonen, die die Nation in Schach halten, zu besiegen. Japan befand sich um die Jahrhundertwende im Krieg mit China und Russland und war später auch in den Zweiten Weltkrieg verwickelt, so dass die Geschichte vom wohltätigen, starken Befreier seiner Landsleute auf fruchtbaren Boden fiel. Dazu trug auch das kaiserliche Erziehungsedikt im Jahr 1890 bei, in dem verfügt wurde, dass Märchen in die Erziehung aufgenommen werden müssen. Bis heute kennt in Japan jedes Kind diese Geschichte: Sie gehört zum Erzählrepertoire von Eltern und Großeltern, von KindergärtnerInnen und LehrerInnen; sie wurde verfilmt, in Form von Mangas aufgelegt, es gibt YouTube-Filme davon und manche Kinder lesen das Märchen bis heute selbst.

Abb.: Prof. Dr. Hiroko Nishiguchi © Märchen-Stiftung Walter Kahn.

„Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und dessen katastrophalen Folgen lag es nahe, im Rahmen unserer Tagung nach der Präsenz des Krieges in den Märchen dieses Volkes zu fragen“, so leitete Prof. Dr. Kristin Wardetzky (Berlin) ihren Vortrag ein. Wie Christoph Schmitt rekurrierte auch sie auf Ilja Muromez, der Inkarnation des siegreichen Verteidigers eines von feindlichen Heeren bedrohten Landes, und interpretierte die Erzählungen seiner Heldentaten als ins Phantastische überführte Realerfahrungen der Ukrainer, die jahrhundertelang von Kriegen dominiert waren. Wardetzky zeigte der staunenden Zuhörerschaft, dass diese Märchen – trotz Krieg, Not, Zerstörung und Widerstand – „von einem subtilen, skurrilen, absurden, teilweise auch deftig-schrägen Humor“ geprägt sind. Sie sieht darin ein Ferment, das die Widerstandskräfte und den Überlebenswillen der ukrainischen Bevölkerung aufrechterhält.
Um die Tagung mit einem hoffnungsvollen Ausblick zu schließen, hatte Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho (Freiburg i. Br.) einen Beitrag zum Thema „Friedensphantasien in Utopien“ angekündigt. Leider war es ihr nicht mehr vergönnt, diesen Vortrag zu halten; sie ist am 21. Mai 2025 nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. An ihrer Stelle entwickelte Prof. Dr. Heidrun Alzheimer (Bamberg) aus einer von Frau Wienker-Piepho hinterlassenen Skizze Überlegungen zu Friedenskonzepten, die schon auf der bloßen Abwesenheit von Krieg basieren können. Positive Friedensvorstellungen betonen die Notwendigkeit von Gerechtigkeit, sozialer Gleichheit und wirtschaftlichem Wohlstand. Die Erzählforschung kennt unter der Überschrift „Friedensfabel“ die Satire auf den Glauben an ein Goldenes Zeitalter, in dem nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch unter den Tieren paradiesischer Frieden herrscht. Sie schildert den Tag, an dem auch die starken Geschöpfe die schwachen fürchten müssen und daher alle still halten.
Am Beispiel der äsopischen Fabel vom Löwen und der Maus, dem Märchen von der „Goldenen Gans“ (KHM 64; ATU 571, 513B) und dem Kunstmärchen von der „Prinzessin auf der Erbse“ aus der Feder von Hans Christian Andersen unterstrich Alzheimer drei vom Frieden kündende Botschaften populärer Erzählungen: Sie betonen erstens die Bedeutung von Harmonie und Versöhnung zwischen unterschiedlichen Charakteren, verlangen zweitens den Mut anzuerkennen, dass nicht immer Stärke, sondern auch Kooperation und Kompromissbereitschaft zum Frieden führen können und zeigen, dass jede/r, unabhängig von seiner Größe oder seiner Macht, zur Lösung von Konflikten beitragen kann.