Bericht zu den Märchentagen 2022

Autor: Kristin Wardetzky

Märchen und Migration

Tagung der Märchen-Stiftung Walter Kahn vom 31.08. – 02.09.2022 in Münsterschwarzach

Nach dreimaliger, Corona-bedingter Verschiebung war zu erleben, welch zeit- und kulturübergreifendes Potenzial im Tagungsthema „Märchen und Migration“ steckt. Im Zentrum stand das Interesse, im Märchen Spuren kulturübergreifender Transformationsprozesse zu eruieren, also Ähnlichkeiten in Motiven und Motivketten, in Figurenkonstellationen und paradigmatischen Handlungsabläufen und deren jeweils kulturspezifische „Anverwandlung“ sichtbar werden zu lassen.
Eine Besonderheit der Tagung bestand darin, dass das Tagungsthema nicht nur theoretisch reflektiert, sondern Migration als aktuelle Realität „vor Ort“ erfahrbar wurde. Bruder Abraham, Benediktinermönch der Abtei Münsterschwarzach, eröffnete die Tagung mit einem Einblick in die Praxis des Klosters, Geflüchteten Asyl zu gewähren, ihnen Wohnraum zur Verfügung zu stellen und sie vielfach zu unterstützen. Damit war das Tagungsthema quasi „geerdet“ und in seiner sozialpolitischen Aktualität erlebbar.

Vorträge:

Rainer Wehse – Volkskundler der Universität München und Herausgeber diverser Publikationen zum Märchen – erläuterte am Beispiel des bekannten „Aschenputtel-Märchens“, wie sich Varianten dieses Märchentyps in weit voneinander entfernten Regionen nachweisen lassen. Erstaunlich sein Befund, dass dieser Märchentyp vermutlich in Nordvietnam seinen Ursprung hat und dass diese uns scheinbar so vertraute Märchenfigur im Mittleren und Nahen Osten, in Afrika und Südeuropa ihr je spezifische narrative Aus- und Umformung gefunden hat. Die Vielfalt seiner Verweise auf den AT/ATU-Katalog machte deutlich, wie Transformationsprozesse am konkreten Beispiel verifizierbar sind.

Stefan Weidner – Islamwissenschaftler, Autor und einer der führenden Vermittler nachöstlicher Poesie und Prosa, u.a. Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung – ermöglichte mit seinem Referat über orientalische Märchendichtungen den Blick in einen kaum bekannten literarischen Kosmos. Die persische Fabulierkunst des 10./12. Jahrhunderts kontrastiert in ihrer Sinnlichkeit und poetischen Verführungskraft jede biedermeierliche Vorstellung vom Genre Märchen. St. Weidner holte die Erinnerung an diese Blüten der Dichtung in die Gegenwart, indem er sie – mit fundiertem analytischen Geschick – mit Verweisen auf die kontroversen Orientalismus-Debatten der Gegenwart verknüpfte.

Dirk Nowakowski – Erzähler, Museumspädagoge, Puppenspieler und Bühnenbildner – machte mit seinen materialreichen, akribisch genau belegten Quellenverweisen deutlich, wie u. a. Überformungen und Verfälschungen zustande kamen, wenn Sammler – u.a. Missionare, Chronisten, Reisende – die Relikte oraler Kulturen zu bewahren und zu verschriftlichen versuchten. Kritisch befragt er die Überlieferung in den Printmedien nach Klischees und Stereotypen, ohne die originäre Leistung der jeweiligen Sammler grundsätzlich in Frage zu stellen.

Im Beitrag von Tatjana Damer – Studium Germanistik, Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft in Marburg, Dissertation zum Thema: „Die Ikone. Gestalt, Bedeutung und Funktion einer Bildgattung“, freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin für BAMF, Gerichte, Polizeipräsidien, Behörden, Kliniken etc. – war das Thema „Migration“ auf eine sehr besondere Weise präsent. Ihr Focus lag auf den Erzählungen von DolmetscherInnen, die – unterschiedliche Sprachen sprechend – eingebunden sind zwischen Geflüchteten, Verwaltungsbehörden, autoritären Behördenstrukturen und eigenen Lebenserfahrungen. Sie konnte an Beispielen von Erzählungen zeigen, wie in ihrer Arbeit in Erstaufnahmelagern oder Ankunftszentren fest geschnürte Kommunikationsstile unterlaufen werden. Das „Dolmetschen zwischen den Zeilen“, das „Spielen“ mit Worten, die Möglichkeiten „performativer Verständigung“ machen das Wirrwarr an Sprachen zum Feld kreativen Entdeckens.

Sabine Kebir – an der Humboldt-Universität Berlin promoviert, 1977–88 in Algier lebend und mit dem algerischen Märchenerzähler Saddek el-Kebir verheiratet, 1989 an der FU Berlin habilitiert, Privatdozentin an der Universität Frankfurt/Main – stellte das Projekt „Erzählen – Spielen – Lesen“ vor, in dem sie in Schulen mit hohem Anteil an Kinder aus arabischen Ländern Märchen aus dieser Kultur erzählt und anschließend mit den Kindern spielt. Sie konnte zeigen, mit welcher Begeisterung die Kinder vor allem durch das Nachspielen des Gehörten animiert werden, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, mit Sprachbarrieren kreativ umzugehen und wie sich daraus die Lust am Lesen von Geschichten entwickelt.

Mensah W. Tokponto – Professor für interkulturelle Germanistik an der Abomey-Calavi-Universität in Benin – konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf ätiologische Erzählungen der Nyende, einer Volksgruppe im Norden seines Heimatlandes. Dort spricht eine Minderheit die Bebiedibe-Sprache und bewahrt damit die ursprünglichsten immateriellen Kulturgüter Benins. Er vermittelte durch die Reflexion ausgewählter Geschichten, wie sich in narrativen Quellen fremder Ethnien kulturspezifische Bilder und Handlungsmuster finden, die uns in ihrer Rätselhaftigkeit betören können, aber letztlich ohne intensive Beschäftigung mit dem Welt- und Menschenbild dieses Volkes wohl kaum adäquat zu entschlüsseln sind.

Anne M. Carovani – nach dem Abitur ein Jahr Aufenthalt in Mali, Studium der Komparatistik in Tübingen, Promotion in Afrika-Wissenschaften in Berlin – gab einen Einblick in populäres Kulturgut aus Mali, das Migration in konzentrierter Form verhandelt. Sie zeigte, wie über Wandermotive, insbesondere über die Darstellungen von Bewährungsproben oder über das Motiv der Glückssuche, kulturelle Konzepte vermittelt werden, die auch in aktuellen Migrationsbewegungen ihre Resistenz beweisen.

Holger Ehrhardt – Inhaber der Stiftungsprofessur für „Werk und Wirken der Brüder Grimm“ in Kassel, u.a. Mitherausgeber der „Kritischen Ausgabe des Briefwechsels der Brüder Grimm“ und seit 2018 Professor für Germanistik in Kassel – konnte im Rückblick in die Ritterzeit, also in das Hochmittelalter, zeigen, inwiefern die abendländische Wahrnehmung geprägt ist von Vorurteilen und Stereotypen, die durch eine bis in die Antike zurückreichende Opposition von Orient und Okzident grundiert ist. Anhand ausgewählter Beispiele vermittelte er eine Ahnung von der Vielschichtigkeit der orientalischen Einflüsse nicht nur in der Literatur, sondern in allen Lebensbereichen der europäischen Welt.

Workshops:

In den Workshops wurden Praxisbeispiele vorgestellt, wie über das Märchenerzählen mit Kindern und Erwachsenen der wechselseitige Kulturtransfer erfolgreich realisiert werden kann. Das Theaterhaus Frankfurt gab einen Überblick über das seit 10 Jahren mit großen Erfolg realisierte Projekt „ErzählZeit Frankfurt“, in dem SchauspielerInnen und TheaterpädagogInnen primär Kinder mit Migrationshintergrund vom Kindergarten an über die Grundschule hinweg regelmäßig mit dem Erzählen internationaler Märchen so vertraut machen, dass diese Kinder am Ende des 4. Schuljahres selbst zu Erzählenden werden und im Altenheim ihre „Kunst“ vorstellen.

Britta Wilmsmeier, Vertreterin von „Erzähler ohne Grenzen“, berichtete über Praxisbeispiele, in denen mehrsprachiges Erzählen gemeinsam mit ErzählerInnen aus der Türkei, Syrien und Deutschland erprobt und professionalisiert wurde. Im Mittelpunkt standen Erfahrungen mit Formen des Dialogs, in denen „Verstehen“ zu einem multi-sensitiven, assoziativen Prozess werden kann.

Silvia Freund und Hamid Saneiy gaben Einblicke in ihre Erfahrungen im Erzählen in den sog. „Willkommensklassen“, also mit Kindern mit rudimentären Deutschkenntnissen. Sie stellten Erzählrituale, Mitmachgeschichten, Lieder und unterschiedliche kreative Formen der Sprachvermittlung vor, die zu erstaunlichen Erfolgen im Prozess des Spracherwerbs führen.

Lubomír Súva stellte im Workshop die Schriftstellerin Bozena Nemcová (1820–1862) vor, die in ihrem Heimatland eine ähnliche Bedeutung hat wie die Brüder Grimm in Deutschland, wo sie vor allem durch den Film Drei Haselnüsse für „Aschenbrödel“ bekannt wurde. Súva machte deutlich, wie sich – bei aller Ähnlichkeit – ihre Märchen von denen der Grimms durch Ironie und ausgeprägte sozialkritische Orientierungen auszeichnen.
Im vielgestaltigen, an der Märchenforschung orientierten Austausch konnte die Thematik der Tagung sachkundig vertieft und überprüft werden.

Einige Vorträge werden im Kongressband der Europäischen Märchengesellschaft (EMG) erscheinen.

Abendveranstaltungen:

Am ersten Abend stellte das Berliner Dou „Sengülüm“, Silvia Freund und Hamid Saneiy, ein mitreißendes bilinguales Erzähl-Programm vor, in dem die Verwandtschaft von Motiven in aserbaidschanischen, deutschen und alt-griechischen Erzählungen unmittelbar erlebbar wurde. Begleitet von Gitarre und der Rahmentrommel Gawal erzählten sie die aserbaidschanische Variante vom Wolf und den Geißlein, dann eine Geschichte aus dem mittelalterlichen Epos „Dede Korkut“, die deutliche Parallelen zum griechischen „Alkestis“-Mythos aufweist, und am Ende eine türkische Variante des Märchens von den Lebenszeiten (KHM 176). Erzählt und gesungen wurde virtuos in zwei Sprachen.

Am 01.09.2022 fand die Preisverleihung in Volkach statt.