Link zur Online-Ausgabe 2.2024/25 – Der Beitrag findet sich auf den Seiten 14 bis 19
(Auszug)
Susanne Hose
In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …
Zerstörung und Erneuerung im Märchen
Wer kennt sie nicht, die vielzitierte Zeile von den alten Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen haben soll? Die Eingangsworte zum „Froschkönig“, dem Märchen Numero Eins der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ sind längst zum Geflügelten Wort geworden. Dabei datieren sie nicht nur dieses erste Märchen in eine längst vergangene Zeit zurück. Sie stimmen uns gleichsam auf die gesamte Gattung „Märchen“ ein, die in der „Großen Ausgabe“ der Grimm’schen Sammlung mit insgesamt 210 Texten reich belegt ist. Denn der vielsagende allererste Satz geht weiter: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selbst, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.“ Damit öffnet sich uns das Tor zu einer Welt jenseits des gewohnten Raum- und Zeitgefüges menschlicher Alltagsrealitäten. Hier mischen sich Sonne, Mond und Wind in personifizierter Gestalt in das irdische Treiben ein. Sie bewundern Charakter und Gestalt der Märchenhelden, beraten sie oder richten ihren eigenen Lauf nach den besonderen Herausforderungen, denen sich die Protagonisten stellen müssen. Die Sonne spiegelt sich im liebsten Spielzeug der Königstochter. Doch die goldene Kugel, hier Inbegriff der heilen Welt, rollt beim Spiel in den Brunnen und nur der darin lebende hässliche Frosch kann helfen. Zu seinen Bedingungen allerdings, die die verwöhnte Schönheit zunächst zu erfüllen verspricht, dann aber das Gegenteil davon tut. Mit Zorn und Verachtung wirft sie das Tier gegen die Wand. Und genau diese Brutalität führt zur Erlösung des Prinzen. Damit stellt schon der erste Text der Grimm’schen Sammlung die bekannten Handlungsmuster der Märchenwelt in Frage. Denn in dieser ist ein überaus schöner Mensch auch ein tugendhafter Mensch, der die Fähigkeit zu Duldsamkeit und Liebe besitzt, der sich selbst überwindet und so das Gefährliche, Hässliche und Schreckliche überwindet. Aufgrund dieser Muster folgen Märchen einer inneren Logik. Doch zu dieser inneren Logik gehört auch das Gesetz der Gegensätze, das zum selben Weltbild wie die beseelte Sonne im Auftaktsatz zum Froschkönig gehört. Mit anderen Worten: hätte die Prinzessin Tisch und Bett mit dem Frosch geteilt und ihm Liebe anstatt Gewalt angetan, hätte der Prinz nie seine menschliche Gestalt samt aller Güter wiedergewonnen. Erst die ahnungslose, intuitive Handlung der gestressten Schönen löst die geheime Bedingung der Erlösung. Erst die Zerstörung der tierischen Hülle führt zur Erneuerung des Königssohns als Mensch.
Märchen verlangen ihren Helden und Heldinnen Mühen und Opfer bis hin zur Selbstzerstörung ab, dies alles geschieht jedoch in der Gewissheit auf ein gutes Ende, obgleich viele Helden keine bewusste Strategie verfolgen. Das meiste geschieht, weil sie einfach Glück haben. Jedoch, die Sammlungen enthalten auch Märchen mit schlechtem Ausgang. Schreckmärchen etwa, in denen Kinder schreckliche Strafen erleiden. Wer wider aller Warnungen und Verbote aus purer Neugier fremde Häuser durchstöbert, macht nicht nur grausige Entdeckungen, sondern fällt mitunter dem dämonischen Bewohner zum Opfer: „Da verwandelte die Hexe das Mädchen in einen Holzblock und warf ihn ins Feuer.“ Abgesehen vom Gruseleffekt beim Erzählen all der unheimlichen Begegnungen, der Kinder selbst zum Weitererzählen derartiger Geschichten, vorzugsweise in abgedunkelten Ferienlagerzimmern animiert, ist die didaktische Natur dieser Schreckmärchen augenscheinlich.
„In keiner anderen Erzählgattung wird so viel geköpft, zerhackt, gehängt, verbrannt oder ertränkt wie im Märchen.“ Lutz Röhrich
Der Märchenforscher Lutz Röhrich hat die Frage nach der Grausamkeit im Märchen auf den Punkt gebracht. Und wir alle kennen die entsprechenden Figuren und Motive dazu: der Großmutter und Kind verschlingende Wolf, die menschenfressende Hexe im Pfefferkuchenhaus, das jährliche Opfer einer Jungfrau an den Drachen, die zerstückelten Leiber im Keller des Mädchenräubers und nicht zuletzt die bestialischen Strafen, Tanzen auf glühenden Eisensohlen oder Baden in kochender Milch. Ohne Zweifel haben auch die Märchen unsere Vorstellungen vom Grauen geprägt. All die Szenen bilden ein poetisches Archiv, aus dem man eine Ikonographie des Schreckens ableiten kann. Der Erzählforscher und Grimm-Kenner Harm-Peer Zimmermann spricht von „Pathosformeln, die unsere Kultur für das Grauen und den Schrecken bereithält“ und ein Repertoire an Schreckensbildern aus Mythologie und Menschheitsgeschichte bilden, die beständig recycelt werden können. Angesichts all der Grausamkeit, wird heute vielerorts die Frage gestellt, ob Märchen für Kinder überhaupt noch zumutbar sind. Gäbe es nicht andere Möglichkeiten, als dass Hänsel und Gretel die Hexe zum Schluss ins Feuer stoßen? Die Antwort ist NEIN. In der Auseinandersetzung mit Märchen lernen Kinder mit ihren Ängsten und Unsicherheiten umzugehen und diese zu bewältigen. Märchen machen Kinder stark, denn sie geben ihnen Handlungsmuster zur Hand. Kinder lernen die Schreckensbilder als ein Repertoire der Fantasie und nicht der Realität zu verstehen. Die kindermästende Hexe gehört ins Märchen und wohnt nicht im Haus nebenan. Und dass sie auf eben die Weise bestraft wird, die sie für die Geschwister vorgesehen hatte, entspricht dem kindlichen Gerechtigkeitssinn. Es gibt keinen anderen Weg, als dem Wolf den Bauch aufzuschneiden, um die Geißlein zu befreien. Kinder nehmen Märchen vor allem als Glücksgeschichten wahr.
Johannes Kühn
Die sieben Geißlein
Dauernd
als ein Gold sind die schönen Enden im Märchen:
Der Wolf ist tot.
Der Wolf ist tot.
Ihr Märchenzicklein, tanzt:
Der Wolf ist tot.
Die Geißenmutter
hat die Lerchen eingeladen
in Märchenewigkeiten hinzutrillern
das Glück: Der Wolf ist tot.
Die Nachtigall hat ihre Stimme aufgetan,
sie treten ein mit ihren weißen Füßen
in jeden Ton
der Flöte
und der Zimbel
in einen Wiesensaal: Der Wolf ist tot.
Wirklich?
Mir nicht.
Er läuft als Winter weiß verkleidet
und bellt mich an. Er stürmt als Sturm
mit schwarzer Schnauze.
Ihr Märchenzicklein, tanzt: Der Wolf ist tot.
(J. Kühn, Salzgeschmack, Gedichte, Saarbrücken 1992, S. 136)
Märchenhelden kennen keinen Schmerz. Im Märchen von den „Sieben Raben“ begibt sich die Schwester der verwandelten Brüder auf die Suche nach ihnen und wandert bis ans Ende der Welt. Sie bittet Sonne und den Mond um Hilfe, doch die erweisen sich als menschenfeindlich. Nur die Sterne sind freundlich und weisen ihr den Weg zum Glasberg, in den die Brüder eingeschlossen sind. Den Schlüssel dazu gibt ihr der Morgenstern. Doch am Ziel angekommen, bemerkt sie, dass sie das Zauberschlüsselchen verloren hat. Und so schneidet sie sich kurzerhand ihren kleinen Finger ab und schließt damit das Jenseits auf, in dem die zu Raben verwandelten Brüder leben. Dies alles geschieht wie selbstverständlich, ganz ohne Ach und Weh. Angesichts ihrer großen Aufgabe, nämlich die Brüder aus dem Glasberg zu befreien, erscheint die Selbstbeschädigung als geringes Opfer. Auch in diesem Märchen führt Zerstörung – und sei es auch nur der kleine Finger – zur Erneuerung. Die Brüder gelangen wieder zum wahren Leben zurück.
„Wenn das Alte ausgebrannt ist, erhebt sich ein Neues aus seiner Asche.“ Johann Wolfgang von Goethe
Störungen gehören zum Leben, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Märchen sind auf den Grundzustand menschlichen und weltlichen Lebens ausgerichtet: auf Schädigung und Ungleichgewicht, aber auch auf eine Aufhebung des Schadens durch Wiedergutmachung, durch Erlösung. Dabei haben sich in das mythische Weltbild des Märchens realistische Alltagserfahrungen eingeschrieben. Die Handelnden – Holzfäller, Müller, Witwen und Waisen – leben in großer Armut, Königspaare leiden unter Kinderlosigkeit, Prinzen und Bauernburschen ziehen in den Krieg. Die Heldinnen und Helden sind konfliktfähig. Sie ertragen Leid, werden in der Familie benachteiligt oder verlacht wie der Dummling; sie müssen schwere und niedrige Arbeit verrichten, ihnen wird Unmögliches abverlangt. Oder aber sie erliegen einer Versuchung, übertreten ein Verbot. Ihr Streben nach einem guten Leben ohne Mangel, nach Rettung und Wiederherstellung der Ordnung halten die Erzählung in Gang. Ein plötzlich eintretendes Unglück, die unvorhergesehene Störung ihres Lebensweges lässt nach rettenden Mitteln und Wegen suchen.
Märchen zeigen uns auf unterhaltsame wie bildhafte Weise, wie man mit diesen Störungen fertig werden kann. Sie bieten uns zu Narrativen geronnenen kulturelle und soziale Erfahrungen, die Menschen zu verschiedenen Zeiten und kulturellen Zusammenhängen gemacht haben. Hier bedingen sich Zerstörung und Erneuerung gegenseitig. Missliche bzw. chaotische Situationen werden in regelrechte oder geordnete Tatbestände verwandelt, Unheil zu Heil, Unglück zu Glück, Armut zu Reichtum verkehrt. Aus den Körperteilen erschlagener Götter oder Riesen erwächst das Universum, aus den Überresten Getöteter entwickeln sich hilfreiche Pflanzen oder Vögel, zerstückelte Opfer werden wieder zusammengesetzt und mithilfe magischer Gegenstände neu zum Leben erweckt. Sich sprichwörtlich „wie ein Phönix aus der Asche erheben“ beschreibt einen Vorgang, bei dem sich etwas nach scheinbar völliger Vernichtung wieder neu entwickelt. Laut orientalischer Mythologie verbrennt der prächtige Feuervogel nach einer bestimmten Lebensdauer, um daraufhin verjüngt und mit neuen Kräften versehen wieder emporzusteigen. Als Sinnbild für den Kreislauf von Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung und Wiederbelebung widerspiegeln viele Erzählmotive die Erfahrungen der Menschen mit einer sich periodisch selbst erneuernden Natur, aber auch ihren Wunsch nach Gesundung, Verjüngung und Überwindung des Todes. Märchen verlangen den Protagonisten zwar Mühen und Opfer bis hin zur Selbstzerstörung ab, jedoch geschieht dies in der Gewissheit auf ein gutes Ende. Tod und Wiederbelebung sind in Märchen als Prozess zu sehen und stehen für den inneren Wandel der Protagonisten; sie werden erwachsener und reifer.
„Eine Welt, die nicht zur rechten Zeit verzaubert und dunkel war, wird, wenn das Wissen wächst, nicht klar, sondern dürr.“ Christa Wolf
Als Kind ohne Märchen aufgewachsen zu sein, ist für Christa Wolf undenkbar. „Der Versuch, sich die Märchen aus der Kindheit wegzudenken,“ sei absurd. „Beginne ich in mir abzutöten das makellose, unschuldige Schneewittchen und die böse Stiefmutter, die am Ende in glühenden Pantoffeln tanzt, so vernichte ich ein Urmuster, die lebenswerte Grundüberzeugung vom unvermeintlichen Sieg des Guten über das Böse. […] Brennende Tränen sind ungeweint geblieben; der Hexe im Märchenbuch wurden nicht die Augen ausgekratzt, die jubelnde Erleichterung über die Rettung eines Helden habe ich nicht kennengelernt, nie bin ich zu fantastischen Träumen angeregt worden, die ich mir im Dunkeln erzähle. Ich weiß nicht, dass Völker verschieden und doch einander ähnlich sind. Meine Moral ist nicht entwickelt, ich leide an geistiger Auszehrung, meine Fantasie ist verkümmert. Vergleichen, Urteilen fällt mir schwer. Schön und hässlich, gut und böse sind schwankende und unsichere Begriffe. Es steht schlecht um mich.“ (Lesen und Schreiben, 1971)
Und weil sie nicht gestorben sind …
Märchen gehören wie Sagen und Legenden in den Bereich des Fantastischen. Mit der rasanten Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien und Bildmedien in den letzten fünf/sechs Jahrzehnten hat die Popularität fantastischer Bild- und Erzählmotive eine neue Qualität erlangt. Die neuen Genre Fantasy, Science-Fiction, hier besonders der Cyberpunk, produzieren neue Plots, Texte, Filme und Figuren, die eine emotionalen Mischung aus Faszination und Zweifel an der digitalen Technik, aus Akzeptanz und Skepsis ausdrücken. Dabei nehmen sie Anleihe bei den Erzählungen eines Prosper Merimees oder Guy de Maupassants bis hin zu Schauerromanen wie Frankenstein von Mary Shelley. Die von Tattoo-Studios angebotenen Motive aus der Horrorszene für Bilder, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen, mögen im Zusammenhang mit dem Thema Märchen vielleicht ungewöhnlich erscheinen, allein auch sie stehen für unsere lebhafte Vorstellungen vom Dämonischen und der Präsenz einer Ikonographie des Schreckens in unserem Alltag. Bei näherer Betrachtung ist dies keine neue Entwicklung, denn das Wunderbare, der Schrecken des Erhabenen und die mythische Erfahrung des Numinosen blicken auf eine weit zurückreichende Tradition in Philosophie, Theologie und Rhetorik zurück. Und somit haben sie sich nicht nur über das Weitersagen von Mund zu Ohr durch breite Volksschichten über Länder- und Sprachgrenzen hinweg tradiert und gleichzeitig immer wieder erneuert. Sie waren eben auch Bestandteil des gelehrten Diskurses.
Ergo: Märchen, Mythen, Sagen usw. sind alles andere als out. Im Gegenteil – sie nutzen das Angebot der neuen Medienvielfalt und äußern sich heute eben nicht nur als mündlich erzählte Geschichte oder Vorlesestoff, sondern auch in Rollenspielen mit aufwendiger Maskierung, im Cosplaying, in Computerspiele, Fan-Artikeln, in der Kleidung oder eben in Gestalt von Körperbildern. Märchen bieten viele Anknüpfungspunkte für die Gegenwart, auch wenn wir heute nicht mehr in den alten Zeiten leben, „wo das Wünschen noch geholfen