Bericht zu den Märchentagen 2016

„Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da gieng das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wusste seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen »Töpfchen, koche«, so kochte es guten süßen Hirsebrei, und wenn es sagte »Töpfchen, steh«, so hörte es wieder auf zu kochen.“ (KHM 103, Der süße Brei)

Die Märchen-Stiftung Walter Kahn hat auch im Jahr 2016 wieder zu ihrer alljährlichen Tagung in Münsterschwarzach eingeladen. Diesmal standen die Tage, die ein enges Programm hatten, unter dem Thema Bratenwunder, süßer Brei – oder Menschenfresserei? Essen und Trinken im Märchen. Damit stellten sich die OrganisatorInnen Wienker-Piepho und Shojaei-Kawan ganz in die Tradition zu vorbereitenden Ausgaben des Märchenspiegels aus den Jahren 2015 und 2016. Wie das Motto zeigt, unter dem die ganze Veranstaltung stand, gibt es eine große Vielfalt an Speisenennungen- oder auch -wundern in den Volksmärchen aus aller Welt. Außerdem gehören dazu nicht nur Speisen in fester Form, sondern auch Getränke, bei denen die Grenze von Lebens- zu Genussmitteln nicht mehr weit ist. So gab es schon allerhand Aspekte für insgesamt neun Plenarvortrage, Arbeitsgemeinschaften und sogenannte Workshops, sowie für abendliches Erzählen und für das, was man „storytelling“ nennt. Der Gedankenaustausch machte wieder einmal bewusst, dass Märchen eben nicht nur deutsch oder europäisch sind, sondern durchaus global. So macht Komparatistik nicht nur Sinn. Hier erschien sie geradezu als Pflicht, den Horizont über die Grenzen Deutschlands oder Europas vergleichend zu erweitern und den Zuhörern damit neue Sicht- und Zugangsweisen zu eröffnen. Eigentlich eine Herkulesaufgabe!

Das Konzept wurde allerdings schon am ersten Tag ins Wanken gebracht, da es – krankheitsbeding – kurzfristig einige Ausfälle im Programm gab. So sprang die Nachwuchswissenschaftlerin Sarah Schurtzmann spontan ein, und trug ihre Überlegungen zu „Trunkenheit in den Märchen der Grimms“ vor. Diese kurzfristige Planänderung hat allerdings nichts an der Qualität der Tagung geändert. Im Gegenteil referierte die Jenaer Studentin souverän und auf hohem Niveau, und das Auditorium begleitete ihr Lampenfieber mit Sympathie. U.a. wies sie darauf hin, dass ein EM (Enzyklopädie des Märchens)–Artikel zum Thema Schnaps und Branntwein gänzlich fehle und dann erklärte sie dieses Fehlen plausibel. Auch die nächste Vortragende, Frau Dr. Köhler-Zülch konnte nicht persönlich erscheinen. Allerdings lag das Manuskript zu ihrem Vortrag vor. Es wurde verlesen – eine Bereicherung für die Hörer. Es ging um die conceptio magica, also um Schwangerschaft durch Speisen. Aufgezeigt wurden nicht nur verschiedene Varianten des Schwangerwerdens (z.B. durch das Essen von Blumen). Welche Kinder entstanden daraus? Entsprachen deren äußere und charakterliche Züge der Speise, die zur Schwangerschaft führte? Solche und ähnliche Fragen führten auch zu einer angeregten Diskussion unter den Zuhörern, wobei insbesondere die Genese im Mittelpunkt stand: Woher kommt dieses Motiv und warum hat es sich in vielen Kulturen so hartnäckig gehalten? – Die Erklärungen reichten von tiefverwurzelten Kinderwünschen als Elementargedanken in der Bevölkerung überhaupt, über die Rechtfertigung eines Kindes als Statussymbol und die Idee, dass es sich bei der übernatürlichen Empfängnis um eine Art Metapher für normale Befruchtung handeln könnte, also um eine Erklärung und gleichzeitige Nobilitierung des Kindes. Den realen Prozess der Zeugung mußte man nicht offen aushandeln.

Am zweiten Tag hat der Erzählforscher Neumann aus Rostock einen Vortrag gehalten, der einen stark regionalen Charakter aber auch biografischen Bezug für ihn als Feldforscher hatte. Neumann versuchte, die Essgewohnheiten der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns historisch aus regionalen Märchenoikotypen zu erklären. Dabei wurde er auch nicht müde, das mecklenburgische Platt als die „schönste Sprache der Welt“ zu bezeichnen. Vorbildlich differenzierte er nach verschiedenen Zeitperioden und sozialen Schichten.

Unsere Dozentin Sabine Wienker-Piepho (Univ. Jena/Freiburg/Zürich) wandte sich daraufhin dem Wein im Märchen zu, wobei Vielen wohl erstmals klar wurde, welch große Rolle dieser in vielen Märchen spielt. So ist es doch schon das Rotkäppchen, das seiner Großmutter Wein bringt. Auch hier erstreckten sich die Blicke wieder weit über die deutsche Grenze hinaus. So wurde festgestellt, dass auch im russischen Märchen der Wein das Getränk ist, das erstaunlich oft genannt wird, obwohl nach heutiger Vorstellung doch der Wodka das Nationalgetränk der Russen ist. Sogar in orientalischen Märchen wird Wein getrunken. Andererseits hat sich die christliche Idee der Eucharistie fast auf jede interpretatio christiana alter Märchenüberlieferungen ausgewirkt.

Eine gänzlich andere Art von Nahrung beleuchtete Pauline Lörzer, die in ihrem Vortrag die Welt der Nachzehrer, Vampire und auch Zombies näher betrachtete. Dabei stellt diese Form des Speisens aber keine Variante des Kannibalismus dar, denn der Verzehrende, der vielfach nach Teilen des menschlichen Körpers trachtet, soll nicht mehr seelisch, sondern nur noch körperlich anwesend sein. Auch der Schmatzende im Grabe gehört zu den Figuren, der nach historisch gar nicht so weit entfernter Vorstellung noch nach dem Tode weiteressen musste. Die Liste, wie man zu einer solchen seelenlosen, aber wieder auferstehenden Person werden konnte, ist ebenso vielfältig wie die, wie man sich vor diesen Gestalten schützte: Präventivmaßnahmen waren etwa das Begraben der Leiche mit dem Bauch nach unten, das feste Verschließen der Särge mit Schlössern, das Fixieren des Unterkiefers mit Brettern oder Bibeln unter dem Kinn, oder ein Stein im Mund des Toten. Maßnahmen zum Schutze vor Nachzehrern oder ähnlichen Gestalten gehörten zum kollektiven Wissen.           

Professor Frenschkowski vom Leipziger Institut für Neutestamentliche Wissenschaft hat vom Blickpunkt des Göttlichen aus, eine weitere Sicht auf das Essen im Märchen veranschaulicht. So ging es in seinem Vortrag um Speisewunder und Wunderspeisen, zu denen man ja eigentlich auch jene zählen könnte, die zu einer Schwangerschaft führen. In seinem Vortrag ging es insbesondere um Speisen der Götter, denn diese sind es, die sich damit das unendliche Leben einverleiben. Insgesamt warf Frenschkowski auf denkanregende Art und Weise mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. Damit formulierte er gleichzeitig auch Desiderate. Zu diesen gehörte zum Beispiel die Frage, ob und was Engel essen, aber auch, woher die Speisen der Götter genau kommen. Doch scheint es tatsächlich die Speise zu sein, bei den griechischen und römischen Göttern also Nektar und Ambrosia, und nach taoistischer Vorstellung 9000 Jahre gereifte Pfirsiche, die den Göttern ihre Unsterblichkeit geben, die aber doch immer wieder erneuert werden muss. Weiterhin sprach Frenschkowski auch Speisetabus an, etwa, dass man in Andersreichen gar nichts essen sollte – das Beispiel der Persephone zeigt, dass man in Anders- und Jenseitswelten sonst dort (zumindest teilweise) gefangen blieb.

Wenn man aber über das Essen aus dem Grabe spricht, muss auch über Menschenfresserei gesprochen werden, was Jasmin Beer übernahm. Dabei verdeutlichte sie, dass Kannibalismus schon in Schöpfungsgeschichten – etwa in der griechischen Mythologie, der Mythen- und Sagenwelt der Aborigines und der Yanomami (indigenes Volk am Amazonas) eine bedeutende Rolle spielte (wichtig erschien dabei ihre Unterscheidung von Endo- und Exokannibalismus). Im zweiten Teil beschrieb Beer dann Anthropophagen in verschiedenen Volksmärchen; ein häufig auftretendes Motiv ist zum Beispiel der Oger, der (beinahe) seine eigenen Töchter isst. Darin erkannte sie eine deutlich wahrzunehmende „krasse“ Antagonie, nämlich die zwischen Held und Kannibalen. Sogar die schwierige Frage, wie man denn eigentlich zum Menschenfresser wird, wurde berührt. Dazu gehört etwa: Geburt, früher Genuss von Menschenfleisch (und spätere Sucht danach), Krankheit oder auch Verfluchung. Am Ende des Vortrages war aber eines ganz klar: Kannibalismus steht auch im Märchen immer unter starker Reglementierung.

Besonders ein Märchentyp darf aber nicht fehlen, wenn sich eine Märchentagung dem Thema Essen und Trinken im Märchen verschreibt, dabei handelt es sich um das Märchen vom Schlaraffen- bzw. Schlauraffenland. Diesem wandte sich Alfred Messerli zu. Er ging dabei methodenkritisch und aus historischer Sicht sowohl auf die kulinarische Variante Bechsteins ein, als auch auf die Lügen-Variante der Grimms.

Noch theoretischer wurde es mit einem brillant formulierten und mit aufschlußreichen Bildern versehenen Plenarvortrag von Prof. Harm-Peer Zimmermann aus Zürich. Er referierte über Lüthis philosophisches Märchenkonzept, insbesondere unter der Berücksichtigung von Aspekten seiner Ästhetik und Anthropologie. Dieser umfassende und sehr eindrucksvolle Vortrag führte die Gedankenwelt eines der wichtigsten Gelehrten der Erzählforschung vor, wobei insbesondere zum Ausdruck kam, was Zimmermann als Hyperregel bezeichnete: „Das Märchen ist ein hoch differenziertes Kontrastkunstwerk“. Dies zeige sich eben darin, dass es von Gegensätzen und Eigendynamik lebt.

Sicherlich hätte man noch mehrere Tage über Märchen- und Märchenelemente im Zusammenhang mit dem Thema Essen im Märchen referieren können. Dennoch würde ich sagen, dass die Märchen-Stiftung ihrer Herkulesaufgabe durchaus gerecht geworden ist und allen Zuhörern sehr wohl verschiedene Ansätze und Speisen sowie Getränke im Märchen gezeigt hat. Dabei hat sie auch angeregt weiter zu diskutieren und nach innovativen Ansätzen zu suchen.

Eben solche wurden auch bei der alljährlichen Preisverleihung geehrt. So erhielt Ute Hager den „Lutz-Röhrich-Preis“. Sie hatte sich in Ihrer studienabschließenden Arbeit dem Märchen unter einem geographischen Aspekt genähert. Florian Schütz wurde der „Gesonderte Förderpreis“ verliehen, der sich mit einem ganz modernen Bezug, nämlich den Videospielen und deren Märchenmotiven, der Erzählforschung annäherte. Durch diese Preisverleihung wurden die Zuhörer, gerade die Studierenden unter ihnen, nicht nur zu neuen Ansätzen angeregt. Mit der feierlichen Preisverleihung des Europäischen Märchenpreises an den weltberühmten Prof. Hermann Bausinger (Tübingen), der im Übrigen trotz seines hohen Alters auch an der Tagung im Volkachnahen Münsterschwarzach teilgenommen hatte, wurde uns Studierenden auch die Möglichkeit gegeben, sich durch das Nadelöhr der Märchen- und Erzählforschung mit Größen des Faches vertraut zu machen und so vielleicht auch Beziehungen zu knüpfen. Mehr noch: man konnte sich selbst einbringen und so beteiligen und diskutieren, ohne einen Vortrag zu halten.

Nachdem ich begonnen habe, wie die Märchentagung eröffnet wurde, möchte ich nun auch schließen, wie diese geschlossen wurde: Mit einem ganz herzlichen Dank an die Veranstalter, die diese Erfahrungen möglich gemacht haben.

Lisa Gersdorf, Studentin aus Jena (Volkskunde/Kulturgeschichte)