Bericht zu den Märchentagen 2019

Wetter im Märchen –

Wetter ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl meteorologischer Erscheinungen und ein naturgegebenes Universalphänomen, welches im alltäglichen Leben von zentraler Bedeutung ist. Als ein absolut neutral geltendes Thema wird es darüber hinaus empfohlen, um soziale Kontakte zu knüpfen oder zu pflegen. Trotzdem reden wir meistens erst dann darüber, wenn es als Extrem auftritt.

Da Wetter maßgeblich für das Überleben von Mensch und Natur, ja geradezu existentiell ist, verwundert es also nicht, dass es sich in den Erzählungen sämtlicher Völker wiederfinden lässt. In wie vielfältigem Maße zeigte sich bei der spannenden Tagung „Wetter im Märchen“, die vom 18. bis 20. September in altgewohnter Location, dem Kloster in Münster-Schwarzach stattfand.

Den Auftakt machten mit Grußworten Roland Kahn als Vorsitzender der ausrichtenden Märchen-Stiftung Walter Kahn und Dr. Simone Stiefbold, die die Organisation der diesjährigen Tagung übernommen hatte. Den thematischen Einstieg und hervorragenden Überblick in das Thema bot zu Beginn Prof. Dr. Hans-Jörg Uther mit seinem Vortrag zu „Wettererscheinungen in Märchen, Sagen und Volkserzählungen“. Vor allem die Verbindungen von Wetter im europäischen Märchen und in Volksglaubensvorstellungen wurde bereits hier deutlich und sollte in den kommenden Tagen noch oftmals eine Rolle spielen.

Auch Dr. Helmut Groschwitz konnte diese Verbindung in seinem Beitrag zu „Mythische Wetter-Deutung und Bewältigung von Witterung zwischen Blutregen und Hundertjährigem Kalender“ nochmal stark untermauern. Er sieht vor allem die Unfähigkeit Einfluss auf das Wetter zu nehmen, als maßgebliche Komponente, warum die agrarisch abhängigen Menschen unterschiedlichste Deutungen brauchten, um vor allem Wetterextreme erklärbar zu machen. Solcherlei entstandene Wetternarrative schlugen sich nicht nur in Mythen und Sagen, Wetterregeln und Kalendern nieder, sondern auch in modernen Erzählungen von „Versündigung“ gegen die Natur. Groschwitz führte seine Ausführungen vor allem an historischen Printquellen vor und gab dadurch gleichzeitig Einblick in die Entstehung einer wissenschaftlichen Meteorologie.

Zu zwei konkreten Wettererscheinungen führten die letzten zwei Vorträge des ersten Tages. Janin Pisarek führte in „Verhüllt, verirrt, verzaubert – Der Nebel in Volkserzählungen“ an zahlreichen Beispielen aus, in wie vielfältiger Weise sich der Nebel in historischen wie modernen Erzählgattungen niedergeschlagen hat. Dabei arbeitete sie die Bandbreite der Wettererscheinung vom verhüllenden Helfer bis zur numinosen Gefahr heraus und zeigte parallele Entwicklungen in der Populärkultur auf.

Einem gleichsam gegenteiligen Wetterphänomen widmete sich Pauline Lörzer in ihrem Beitrag „Wenn die Mittagshexe kommt – Von Dürre, Hitze und Dämonen“. Im Beginn zeigte sie, wie schon in den weltweiten Mythen die Entstehung der Sonne vielfältig an die Gefahr der Zerstörung der Welt durch Hitze und Dürre geknüpft war. Diese Angst der Menschen spiegelt sich auch in vielfältigen Märchen und Sagen wider, in denen es, wie bereits bei Groschwitz verdeutlicht, häufig um Erklärungen für das eintretende Wetterextrem geht. Auch in personifizierter Form findet sich deshalb nicht nur die Sonne selbst, sondern auch die Hitze und der Hitzschlag, wie in der vorwiegend sorbischen Gestalt der Mittagsfrau oder des Ekenekepen in Theodor Storms berühmtem Kunstmärchen „Die Regentrude“.

Von der Hitze zum Frost ging es am nächsten Morgen bei Prof. Dr. Dagmar Burkhart weiter. Unter dem Titel „Frost Rotnase, Schneemädchen & Co. – Zur Hypostasierung von Naturphänomenen im Märchen“ nutzte sie als Schwerpunkt ihrer Untersuchungen die personifizierten Figuren für Frost und Schnee in den russischen Märchen Väterchen Frost und Snegurotschka und deren filmischen Adaptionen. Anhand der Figuren zeigte sie, dass Naturphänomene als archetypische Sinnbilder des Werdens und Vergehens ihren Niederschlag im Märchen gefunden haben und von dort nicht nur in die Popularkultur, sondern auch in sowjetische und postsowjetische Bräuche eingegangen sind.

Christine Shojaei Kawan setzte sich ebenfalls mit Manifestationen und Personifikationen von Wettererscheinungen, konkret von Sturm und Wind auseinander. Dabei stieg sie über die antike Mythenwelt ein und zeigte ebenso mit Märchen und Sagen, wie vielfältig Wind und Sturm als handlungstreibendes Motiv in den Gattungen vorkommt und sich auch in Musik und Malerei niedergeschlagen hat.

Ganz aktuell wurde es bei Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho, die sich auf das Feld des Klimawandels, bzw. dessen Leugnung, der Klimalüge, begab. Sie zeigte, dass historische Wetternarrative wie der Weltuntergang durch Sintflut oder Dürre ein erzählerisches Faszinosum sind, welches sich mühelos über die Jahrhunderte gehalten hat und sich auch in modernen Klimawandel-Erzählungen wiederfinden lässt. Zentral wurden dabei terminologische Untersuchungen von „Lüge“ und „Märchen“, „Fakenews“, „Fakelore“ und dem „Climate-Change-lore“ als Schlüsselwörtersuche der narrativen Untersuchungen. Denn auch Sagen hätten als Grundeigenschaft, dass sie geglaubt werden wollen – ähnlich wie Fakenews. Bei Märchen sei die Unwahrheit integrativer Bestandteil als unterhaltendes Motiv. Wienker-Piepho plädierte deshalb einmal mehr, unsere traditionellen Forschungswerkzeuge auf moderne Narrative zu richten, um die Erzählforschung zukunftsfähig zu halten.

Ebenfalls begriffsanalytisch wurde es bei Prof. Dr. Martin Scharfe, der anhand des Märchenphänomens von „Erdbeeren im Winter“ eine konkrete Motivanalyse im Kontext des Absurden vorstellt. Er führte dabei auch in die kulturgeschichtliche Reiseberichtsforschung und den alpinen Raum, wo die Übergänge von Jahreszeiten und Fruchtbarkeit natürliche Widersprüchlichkeit haben kann und fragte kritisch, ob die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Objekten wie Erdbeeren, die Erfahrung des Paradoxen in der heutigen Zeit nicht verschwinden ließe.

Auch Prof. Dr. Bernd Rieken nahm sich eines spezifischen Themas an und analysierte in seinem Beitrag „Der Hochmut und sein Wetter. ‚Von dem Fischer un syner Frau‘“ das Grimmmärchen KHM 19. Hier zeigt er auf, wie mit der zunehmenden Maßlosigkeit der Wünsche der Fischersfrau sich auch das Wetter am Meer verschlechtert und als Spiegel für das Verhältnis von Mensch und Natur dient. Rieken zeigt, dass Wetter nicht nur ein klassisches literarisches Begleitmotiv ist, sondern hier auch modern anmutende ökologische Aspekte einfließen, die zwar keinesfalls neu, in Zeiten des Klimawandels aber von besonderer Bedeutung sind.

In den Workshops von Prof. Dr. Hans-Jörg Uther zu „‘Lass es blitzen und donnern.‘ Wetterphänomene in schwankhaften Erzählungen“ und Dr. Susanne Hoses „‘Wenn der Hahn kräht auf dem Mist…“ – Sprichwörtliche Wetterprognosen und ihre Parodien“ konnten sich die Teilnehmer im Anschluss anhand von Texten und Materialien gemeinsam in die Themenkomplexen vertiefen.

Ein besonderes Highlight war die alljährliche Verleihung des Europäischen Märchenpreises und des Lutz-Röhrich-Preises, die in gewohnt feierlichem Ambiente in Volkach vollzogen wurde. Ausgezeichnet wurde erstmals ein Museum, das Deutsche Märchen- und Wesersagenmuseum Bad Oeynhausen, deren langjährige Leiterin Dr. Hanna Dose den Preis mit dankenden Worten entgegennahm. Damit ehrt die Stiftung, die diesen Preis zum 33. Mal vergibt, überzeugende Leistungen um eine engagierte Vermittlung von Märchen und Märchenforschung im Hinblick auf eine größere Öffentlichkeit. Der Lutz-Röhrich-Preis ging dieses Jahr an Dr. Dieter Brand-Kruth für seine hervorragende Dissertation zum Thema „‚Die Bremer Stadtmusikanten‘ – eine soziokulturelle Studie“. [Über die Begründung der Preise wurde in den Märchenspiegel-Ausgaben 1/2019 und 3/2019 ausführlich berichtet, zu den Preisreden vgl. unten].

Den Ausklang des Abends bildete der Austausch der Teilnehmer und Preisträger in der Festhalle bei hervorragenden regionalen Spezialitäten.

Den Auftakt des letzten Tagungsblocks am kommenden Tag übernahm Prof. Dr. Alfred Messerli mit seinem Beitrag „Seine Zunge im Zaum halten oder wie man gut von den Zwölf Monaten spricht“. Im Zentrum stand dabei die Grimmsche Variante von Giambattista Basiles Märchen „Die Zwölf Monate“, die er mit verschiedenen theoretischen und philosophischen Deutungsmustern von Norbert Elias bis Gottfried Wilhelm Leibnitz untersuchte. Durch diesen Zugang über die Effekte von negativer und positiver Rede, konnte hier der Aspekt von Kommunikation und Wetter vertiefend herausgearbeitet werden.

Einem weiteren Wetterphänomen begab sich Dr. Gundula Hubrich-Messow in ihrem Beitrag über Eis in Volkserzählungen auf die Spur. Unterhaltsam und vielseitig zeigte sie, dass Eis in den verschiedensten Erzählgattungen vom Tiermärchen bis zur Schildbürgergeschichte vorkommt, aber ähnlich wie bereits im Nebel-Vortrag gezeigt, ganz unterschiedliche Arten und Funktionen im Handlungshergang haben kann.

Dr. Simone Stiefbold rundete die Tagung thematisch mit ihrem Beitrag zu „Atmosphären: Von Wettererfahrungen und Wettererzählungen“ ab. Sie zeigte nochmals die Komplexität des Wetterthemas, welches als immanenter Teil der Lebenswelt Eingang in die Erzählgattungen gefunden hat und bis heute findet. Dabei wird es, anders als in der Meteorologie, mit vielfältigen Begriffen wie „schwül, heiter, frisch, drückend,….“ beschrieben, also mit Worten, die eine atmosphärische Wahrnehmung ermöglichen. Vor allem im Märchen sind Wetterbeschreibungen selten, verstärken aber, wenn sie vorkommen, die Nachvollziehbarkeit der Handlung (z. B., dass die Prinzessin bei heißem Sommerwetter am kühlen Brunnen spielt). Es komme ansonsten vor allem dann vor, wenn es die Handlung voranbringt, sinnvoll rahmt oder Teil einer Strafe ist.

Stiefbold konnte in ihrem Beitrag viele Punkte der Vorgänger aufgreifen und schlüssig zusammenführen. Dies zeigte auch nochmal die Relevanz der Vorträge, die trotz ihrer unterschiedlichsten Zugänge zum Thema „Wetter und Märchen“ am Ende ein schlüssiges Bild ergaben.

In diesem Sinne freuen wir uns schon sehr auf das kommende Jahr, in welchem unter dem Motto „Märchen und Migration“ auch das Erzählen selbst einmal stark in den Fokus gerückt wird.

Pauline Lörzer